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Kunstverein Hannover: Doktor Frankenstein geht in den Schneideraum

Kunst und Film sind auf Festivals schon lange ein erfolgreiches Gespann. Nur die Museen zögern noch. Eine vielversprechende Ausstellung wird dafür ab 11. Januar in Hannover zu sehen sein.

Gestern im Blockbuster: Während einer Aufführung des neuen Hobbit-Films wird „Smaugs Einöde“ zur Party-Location. Die jugendlichen Kinogänger üben Popcornweitwurf oder demonstrieren die Leuchtkraft ihrer mobilen Displays. Wohl nie in der Geschichte des Kinos mussten massenkompatible Filme so um die Aufmerksamkeit ihrer Zuschauer kämpfen wie heute. Kein Wunder, dass das Kino im Gegenzug immer mehr aufrüstet: mit Schnittkanonaden, bombastischem Sound und 3D-Technik. Ist das noch Kino oder schon Kidnapping?

Es gibt ja Alternativen. Der Fernseher verliert seinen Ruf als Konservendose für Produktionen, die im Kino keiner mehr sehen will. Brandaktuelle Serien und Filme ohne Kinostart laufen über den Schirm, als Erstausstrahlung, von der Blu-Ray oder aus dem Internet. Eine weitere kinematografische Parallelwelt entsteht seit Jahren in Museen und anderen Kunstinstitutionen. Ein Beispiel: Die Berliner Galerie Neugerriemschneider bietet in ihrer Schau „Seven films about time and space“ (Linienstr. 155, bis 15. Februar) mit Künstlerfilmen von Olafur Eliasson, Sharon Lockhart oder Ai Weiwei zwar komplett andere Filmerlebnisse als die Cineplexe der Umgebung, aber es deutet sich eine Annäherung von Filmfestivals und Kunstorten an. „Stemple Pass“ (2012), James Bennings zweistündiger Filmessay über den Unabomber Ted Kaczynski, lief auf der letzten Berlinale und jetzt bei Neugerriemschneider.

Das schwache Angebot an Filmarbeiten im Berliner Museumsprogramm verwundert

Spätestens seit Dokumentarfilme wie Gianfranco Rosis „Sacro GRA“ auf Festivals als Sieger hervorgehen – in Venedig holte er 2013 den Goldenen Löwen – und bildende Künstlerinnen wie Miranda July („The Future“, 2011 im Berlinale-Wettbewerb) in der Hauptschiene vertreten sind, zeigt sich die Durchlässigkeit der globalen Filmkultur. Im Forum Expanded der kommenden Berlinale sollen deshalb kaum noch Kategorien wie Dokumentar-, Spiel-, Experimental- oder Kunstfilm gelten, sondern es ist nur noch die Rede von einer „zeitgenössischen Filmsprache“, die der komplexen Erfahrungswelt der Künstler entspreche. Diesmal stehen Filme von Omer Fast, Dani Gal oder Amie Siegel auf dem Programm.

Angesichts solcher Öffnung der großen Festivals Richtung „Expanded Cinema“ verwundert das schwache Angebot an Filmarbeiten im Berliner Museumsprogramm. Die Christoph-Schlingensief-Ausstellung in den Kunst-Werken (Auguststr. 69, bis 19. Januar) kann die magere Jahresbilanz kaum aufbessern. Im Hamburger Bahnhof war 2013 praktisch kein filmisches Werk zu sehen, abgesehen von einer Berlinale-Kooperation mit dem brasilianischen Künstler Hélio Oiticica im Februar. Auch die Berlinische Galerie – trotz der Schlenker zum Video bei von K. H. Hödicke und Tobias Zielony – zeigt erst im kommenden Monat wieder Filme: Wiederentdeckungen aus dem Nachlass der queeren US-Avantgardefilm-Ikone Jack Smith. Außerdem lädt dann das Museum zum Kongress „Think:Film“. Beide Programme wurden allerdings vom Forum Expanded der Berlinale initiiert.

In Hannover haben Christoph Girardet und Matthias Müller hunderte von Zugszenen gesichtet

Film denken? Das gelingt in Berlin zurzeit am ehesten in den Galerien. Patrick Ebensperger etwa zeigt in seinen neuen Räumen im ehemaligen Weddinger Krematorium Bjørn Melhus’ raumgreifende „Liberty Park“-Installation (Plantagenstr. 10, bis 15. Februar). Eine der vielversprechendsten Filmausstellungen wird dafür ab 11. Januar im Kunstverein Hannover zu sehen sein. Christoph Girardet und Matthias Müller zeigen dann dort ihre Gemeinschaftsarbeiten. Seit 1999 kooperieren die beiden immer wieder. Als Titel ihrer Werkschau dient ein Filmdialog-Zitat. Der Satz „Tell Me What You See“ lässt sich auch als Hinweis auf eine gut funktionierende Partnerschaft lesen, in der Ideen verbalisiert werden müssen, um den Produktionsprozess am Laufen zu halten.

Die Filmcollagen des Künstlergespanns sind aus Fremdmaterial zusammengeschnitten. Found-Footage wird dieses Verfahren genannt. Das Duo findet seinen Stoff vorwiegend in Spielfilmen, doch laufen ihre Geschichten meist leer, kinospezifisches Erzählen wird in ihren Werken gezielt ausgebremst. Für ihre Dreikanal-Videoinstallation „Locomotive“ von 2008 haben Girardet und Müller Hunderte von Zugszenen gesichtet und kompiliert. Höchste Abstraktion erreicht ihr Werk in dem Moment, wenn vorbeisausende Nachtzüge in einer Totalen zu sehen sind, deren erleuchtete Fenster wie Filmstreifen wirken. Durch die verschiedenen Aufnahmewinkel sieht es aus, als würde ein einziges Filmband an den Umlenkrollen eines Projektors entlanggeführt.

Da scheint es fast ungerecht, dass eine Found-Footage-Fleißarbeit wie Christian Marclays „The Clock“ 2011 den Goldenen Löwen der Venedig-Biennale gewinnt. Marclays 24-Stunden-Epos aus Uhrenszenen der Filmgeschichte, das wie eine Echtzeit-Ansage funktioniert, fesselt seine Zuschauer anhand ganz konventioneller Kino-Erzählweisen. Girardet und Müller hingegen zerlegen mikroskopisch, quasi mit dem Seziermesser, die formalen Kräfte des Kinos, um sie zu analysieren und dann neu zu gestalten. Obwohl sie sich aus dem Fundus der Filmgeschichte bedienen, haben ihre Werke mit konventionellem Kino wenig zu tun, sie sind bildende Kunst par excellence.

Versehrte und heilende Körper, Pflanzen und tote Gegenstände fließen zu einem Korpus zusammen

Trotzdem ist das Duo auch auf Filmfestivals überaus erfolgreich. 2006 gewannen die beiden auf den Filmfestspielen von Cannes für ihren 15-Minüter „Kristall“ den Kritikerpreis „Canal+“; und erst jüngst waren sie mit ihrem neuesten Werk „Cut“ für die Kurzfilmsparte des europäischen Filmpreises nominiert. „Es geht darin um den Körper, von dem wir heute glauben, dass er fast beliebig formbar sei“, beschreibt Matthias Müller den Film. „,Cut’ hinterfragt diesen Glauben an die Kontrollierbarkeit. Der Körper zerfällt und stirbt, so oder so.“

Giradets und Müllers Körperkino, das als Ausstellungspremiere ebenfalls in Hannover zu sehen sein wird, ist bemerkenswert sinnlich. Die Künstler haben es aus diversen Clips, vorwiegend aus Horrorfilmen, zusammenmontiert. In ihrer raffinierten Montage fließen die Filmbilder von versehrten und heilenden Körpern, von Pflanzen und toten Gegenständen auf magische Weise zu einem beseelten Korpus zusammen. Dann wieder sind schmerzhafte Schnitte zu sehen – sowohl im Sinne krasser Filmmontage als auch in Form blutender Wunden auf der Leinwand.

„Cut“ erinnert an den Satz des Cutters Walter Murch, der viel für Francis Ford Coppola arbeitete: „Wir zerhacken den armen Film auf einer Miniaturguillotine und kleben die abgetrennten Einzelteile dann zusammen wie Doktor Frankensteins Monster. Der wundersame Unterschied besteht darin, dass unser aus dieser Metzgerarbeit entstandenes Geschöpf zuweilen nicht nur zum Leben erwacht, sondern auch eine Seele hat.“

„Christoph Girardet & Matthias Müller: Tell Me What You See“, Kunstverein Hannover, 11. Januar bis 16. März, www.kunstverein-hannover.de

Jens Hinrichsen

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