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Kupferstichkabinett: Alte Technik, "Neue Realitäten"

Fotografik nennt Andres Schalhorn die Montage vermeintlicher Gegensätze, in denen Aufnahmen durch künstlerische Intervention neu interpretiert werden. Er ist Kurator der Ausstellung "Neue Realitäten" im Berliner Kupferstichkabinett.

Was Wolf Vostell alles in Beton gegossen hat: Autos, Fernsehgeräte und 1972 sogar Arm und Bein eines liegenden Mannes. In diesem Fall konzentrierte er sich zwar auf die Übermalung von vier Fotos desselben Motivs: Betongraue Farbe umschließt jedes Mal eine andere Extremität des Abgebildeten. Doch man erkennt Vostells typisches Stilmittel sofort. In die Irre führt der Titel, denn „Olympiade“ bietet keine Impressionen aus dem Hochleistungssport. Die Serie erzählt vom Töten und ganz speziell vom Krieg der USA gegen Nordvietnam – die Aufnahme zeigt einen erschossenen Vietnamesen.

Vierzig Jahre später zwingt einen Vostell erneut zum Hinschauen. Auch wenn man Bilder wie dieses hinreichend kennt. Der Eingriff des Künstlers hat das unendlich reproduzierte Foto verändert, die Zeit still gestellt und präsentiert die Szene wie im Loop. Dabei bildet „Olympiade“ nicht länger die Wirklichkeit ab, sondern jagt sie durch den Filter künstlerischer Subjektivität, der das Motiv zum Artefakt werden lässt. Das Ergebnis sind jene „Neuen Realitäten“, denen die gleichnamige Ausstellung im Kupferstichkabinett der Staatlichen Museen zu Berlin nachspürt. Sie zeigt, wie Künstler ab den sechziger Jahren die Massenmedien in ihr Repertoire aufnehmen – und schließlich ganz selbstverständlich nutzen, um ihre eigene Wirklichkeit zu generieren.

Für die unmittelbare Intervention steht ein Pionier wie Vostell, der zum Pinsel griff und das handwerklich übermalte Sujet als Edition drucken ließ. Am anderen Ende glänzt Andy Warhol, der im Kupferstichkabinett gleich mit zehn unterschiedlich eingefärbten „Marilyns“ von 1967 vertreten ist. Auch er griff auf eine fotografische Vorlage zurück, überarbeitete sie allerdings so gründlich, dass kaum noch eine Verbindung zum ursprünglichen Porträt besteht. Erst Pop-Artisten wie er oder Roy Lichtenstein sorgten dafür, dass der Siebdruck in den Fokus der Kunst geriet. Als Werbegrafiker fehlte Warhol der Dünkel, mit dem die Hochkultur alle preiswerten Methoden der Vervielfältigung ablehnte. Dem Grenzgänger hingegen war das Potenzial trivialer Medien schnell klar. Und die europäische Avantgarde nahm den Impuls gerne auf.

Gerhard Richter zum Beispiel oder Sigmar Polke. Der eine lässt sein profanes Motiv „Kerze II“ (1989) verschwimmen, der andere bläht die Punkte des Farbrasters, mit denen beim Offsetdruck gedruckt wird, monströs auf und macht sie zum ästhetischen Instrument. So nobilitierte er en passant ein mechanisches Verfahren, das den sechziger Jahren als Instrument seelenlosen Massendrucks galt. Und das doch in die Zeit passte, weil Künstler ihre Arbeit so bequem in bundesdeutsche Wohnzimmer exportieren konnten. Wie wichtig Polkes Beitrag war, machte nicht zuletzt die Schenkung von 30 Editionen durch den Kunsthändler Wolfgang Wittrock klar, der 2007 ein ganzes Konvolut an das Kupferstichkabinett übergab – Anlass und Ausgangspunkt für die jetzige Ausstellung.

Hier rekapituliert Kurator Andreas Schalhorn anhand von 120 Beispielen, wie es mit dem grafischen Medium durch die Zeiten der digitalen Revolution bis in die Gegenwart weiterging. Fotografik nennt er die Montage vermeintlicher Gegensätze, in denen Aufnahmen aus der Werbung, den Nachrichten oder dem Alltag dank künstlerischer Intervention neu interpretiert werden. Das Ergebnis kann affirmativ ausfallen, wie es der kalifornische Maler Mel Ramos mit seiner Kombination von Konsumartikeln und nackten Frauen seit Ewigkeiten exerziert. Oder subversiv wie die wandgroße Installation von Christian Boltanski. „Gymnasium Chases“ von 1991 zeigt das Foto einer jüdischen Klasse in Deutschland um 1930. Die Gesichter hat der Künstler noch einmal als Einzelporträts bis zur Unschärfe vergrößern lassen und dank gezielter Veränderungen zu Schattenbildern gemacht.

Franz Gertsch nutzt Fotografien, um die Technik des Holzschnitts bis an ihre Grenzen zu treiben. „Schwarzwasser“ entfaltet auf einem handgeschöpften Blatt auf fast drei Metern Höhe ein Panorama abstrakter Kreise und Linien, die sich erst aus einiger Entfernung als Oberfläche eines Sees zu erkennen geben. In seine Fußstapfen tritt der junge Berliner Künstler Thomas Kilpper, der 2009 das Linoleum im ehemaligen Gebäude der Staatssicherheit auf 800 Quadratmetern als Druckstock nutzte und politische Erinnerungsbilder aus Ost und West in den Boden ritzte. „Neue Realitäten“ zeigt ein großes Blatt, das die Entführung von Hanns Martin Schleyer 1973 zum Thema hat.

Weniger vertraut sind dem Laien die differenzierten Möglichkeiten der Vervielfältigung. Lichtdruck, Offset, Alugrafie. Was der Katalog ausführlich erläutert, entfaltet sich in der Ausstellung höchstens als visuelle Qualität. Geradezu spürbar wird sie bei den Heliogravüren, die der Drucker und Berliner Galerist Niels Borch Jensen in enger Zusammenarbeit mit Tacita Dean oder Olafur Eliasson entstehen lässt. Diese Blätter haben eine altertümliche, fast magische Ausstrahlung und wirken wie alte Kupferstiche.

Alles selbst machen dagegen Künstler wie Kai Schiemenz oder Eberhard Havekost. Sie fotografieren, scannen die Motive ein, bearbeiten sie per Computer und schöpfen damit alle Mittel aus, um die Grenzen zwischen dokumentarischem Inhalt und künstlerischer Bearbeitung verfließen zu lassen. Carsten Höller schließlich lässt auf seinem Blatt „Rentierkopf“ (2010) einen Elch Fliegenpilze fressen, auf dass sich das tierische Bewusstsein ein Stück erweitere. Solche Bilder wirken im selben Augenblick echt und manipuliert – eine hybride Form, die schöne, schräge und seltsame Blüten treibt.

Kupferstichkabinett, Kulturforum Potsdamer Platz, bis 9. Oktober, Di–Fr 10-18, Sa/So 11–18 Uhr. Katalog 25 Euro.

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