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Kultur: Kur in Kanaan

„Das Tor zur Sonne“: Elias Khoury verarbeitet die traumatische Vertreibung der Palästinenser aus Galiläa zu einem Epos

Im Jahr 1948 wurden im Zuge der Staatsgründung Israels etwa 800000 Palästinenser aus Galiläa vertrieben, zumeist in den Libanon. „Al Nakba“ heißt dieses Kapitel des palästinensischen Dramas – „die Katastrophe“. Elias Khoury, 1948 in Beirut geboren, weiß, wie schwierig es noch immer ist, sich darüber zu verständigen. Er ist nicht der erste Autor, der sich um diese Vergangenheit bemüht, aber sein Roman „Das Tor zur Sonne“ ist beispielhaft dafür, die Literatur nicht als Ersatz für Historiografie zu missbrauchen.

Die Erinnerung an „al Nakba“ lebt in den mündlichen Erzählungen der Flüchtlinge, von denen Khoury viele archiviert hat. Zum Beispiel die Geschichte von Abu Maruf, der seine Frau bei den Luftangriffen auf Saffuri am 15. Juli 1948 verlor: „Gekämpft haben wir nicht im geringsten. Jetzt behaupten wir, wir hätten gekämpft und Palästina nur deshalb verloren, weil uns die arabischen Staaten im Stich gelassen hätten. Das stimmt aber nicht. Palästina haben wir verloren, weil wir nicht gekämpft haben. Wie Trottel haben wir uns Gewehre umgehängt und in unsern Dörfern auf sie gewartet.“

Eine peinliche Revision der Widerstandslegenden von den mutigen Fedajin, den „opferbereiten Kämpfern“. Mit ihnen tröstet sich ein gedemütigtes Volk über die Niederlage, sie bilden auch die Legitimationsmythen einer politischen Kaste, die Khoury gleichfalls kritisiert. Ursprünglich ging es Khoury darum, Liebesgeschichten zu erzählen. Es wurden zwei, verschmolzen in einer Symbiose. Zum einen die tragische Liebesgeschichte von Khalil und Schams. Schams, eine freizügig lebende junge Frau, begeht einen Ehrenmord und wird danach in einer kollektiven Tötungsaktion hingerichtet. Khalil, der die Rache ihrer Familie fürchtet, versteckt sich im Galiläa-Krankenhaus in Schatila. Als angestellter Krankenpfleger übernimmt er die Pflege des Fedajin Yunus, seines Ziehvaters, Freundes und Idoles. Nach einem Schlaganfall ist Yunus ins Koma gefallen. Hier beginnt eine talking cure, durch die das gesamte Material dieser Geschichte wirbelt, das kollektiv verdrängte und das individuell ungeklärte. Khalil glaubt, angelehnt an seine Chinaerfahrungen, dass der Körper dem „System der Seele“ gehorchen muss. Wenn er nur mit dem bewusstlosen Patienten spricht, wird dessen Seele die Kraft finden, den komatösen Körper zu beleben.

Khalil erzählt Yunus dessen eigene Geschichte. Yunus hatte sein Hauptquartier im Südlibanon aufgeschlagen, seine Frau Nahila blieb im besetzten Dorf in Galiläa und zog dort die gemeinsamen Kinder groß. Kinder, die das Ehepaar in seinem Versteck gezeugt hatte, im „Tor zur Sonne“, einer Höhle in den Bergen Galiläas. Khalil will nicht das Sprachrohr „der Geschichte“ sein: „Geschichte interessiert mich nicht mehr. Meine Beziehung zu dir, mein Lieber, ist nicht der Versuch, Geschichte wiederzubeleben. Nein, ich möchte vielmehr verstehen, wieso wir beide wie Gefangene sind in diesem Krankenhaus, wieso ich mich von dir und meinem Gedächtnis nicht befreien kann.“ Er kann, die in ihm erstarrten Mythen werden zu Geschichten lebendiger Menschen, der Kämpfer Yunus wird zu einem Liebenden. Aber Khalil muss sich der ganzen Geschichte stellen.

Das Krankenhaus in Schatila mit dem Namen „Galiläa“, dessen Chefarzt nur den eigenen Vorteil im Auge hat und von Medizin wenig versteht, steht für das palästinensische Provisorium insgesamt. Es ist das poetische Kraftzentrum des Romans. Dabei geht es nicht um einen therapeutischen Sprechakt. Im Erzählen entströmt die gesamte kollektive Geschichte, das Mythen- und Legendenmaterial, das sich auch in Khalils Gedächtnis angesammelt hat. Die Frage seines Mediums Khalil ist auch die des Autoren: „Was ist das für ein Spiel? Ich sehe zu, wie du stirbst, und entführe dich in eine imaginäre Heimat.“ Es ist eine kollektive Kur zur Katharsis – und ein ungewöhnlich moderner Roman. „Das Tor zur Sonne“ ist der gelungene Versuch, sich mit den Mitteln der Literatur einem historischen Trauma zu nähern. Das historische Gedächtnis in Sachen „Nakba“ ist fragil. Elias Khoury aber ist es gelungen, die Erinnerungsfäden zu einem lebendigen Epos zu verknüpfen.

Ein Stoff, der nach der Verfilmung schreit. Der ägyptische Filmregisseur Yousry Nasrallah hat zusammen mit Elias Khoury und Mohamed Soueid den Roman umgeschrieben und dessen Geschichte so entflochten, dass sich der Film „Das Sonnentor“ (am 7. und 8. Oktober jeweils um 20.45 Uhr auf Arte) nun einer einzigen erzählerischen Linie fügt.

Im ersten Teil des Films werden die Geschichten der Überlebenden in ein zusammenhängendes Szenarium umgesetzt. Hier entsteht das Bild des Palästina, das die Zeitzeugen überliefert haben. Der zweite Teil geht von persönlichen Erfahrungen der Autoren in den Lagern im Libanon aus. „Palästina lässt den Palästinensern den Vortritt“, sagt der Regisseur dazu. Wer den Film nach der Lektüre des Romans sieht, macht tatsächlich einmal die Erfahrung, dass sich ein poetisch imaginierter Raum in der filmischen Adaption erweitert. Man kann das durchaus mit einem Effekt beschreiben, den Khalils Großmutter erfährt, als sie heimlich ins verbotene Dorf zurückkehrt, um ihren Schmuck zu holen: „Mit einem Blick habe ich plötzlich alle Häuser und alle Bäume gesehen. Es war, als hätten meine Augen plötzlich eine Wand durchbrochen und nun – klare Sicht.“

Dieses Buch bestellen Elias Khoury: Das Tor zur Sonne. Roman. Aus dem Arabischen von Leila Chammaa. Klett-Cotta, Stuttgart 2004. 742 Seiten, 25 €.

Martin Zähringer

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