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Kultur: Kurze Momente der Schönheit

Von Christina Tilmann Manchmal hat ein Kunstwerk unvermittelt aktuelle Bedeutung. In der Videoarbeit „Of Poetry and Prophecies“ des indischen Dokumentarfilmers Amar Kanwar patroullieren Soldaten durch ein grünes Land.

Von Christina Tilmann

Manchmal hat ein Kunstwerk unvermittelt aktuelle Bedeutung. In der Videoarbeit „Of Poetry and Prophecies“ des indischen Dokumentarfilmers Amar Kanwar patroullieren Soldaten durch ein grünes Land. Offen ist das Land, aber nicht frei: „Diese Bäume rechts gehören uns. Die in der Mitte den anderen“, erklärt eine Stimme aus dem Off. Die Grenze zwischen Indien und Pakistan ist unter ständiger Bewachung – zur Zeit mehr denn je. Und die Bitterkeit, mit der Kanwar die Teilung des Landes kommentiert, klingt abends vor der Tagesschau noch nach.

Dass ein Kunstwerk politisch Stellung bezieht, wird von den 118 Künstlern, die ab heute auf der Documenta11 in Kassel ihre Werke präsentieren, fast schon erwartet. Auch weil der Documenta-Kurator Okwui Enwezor mit dem Ziel angetreten war, Kunst in ihrem politischen Kontext zu lesen. Wer aber fürchtete, nach den vier vorgeschalteten Plattform-Seminaren auch auf der als „Plattform 5“ firmierenden Großausstellung mit einem Thesenberg ohne sinnlichen Reiz konfrontiert zu werden, ist erleichtert: Die Kunst feiert eine triumphale Wiederkehr – nicht jenseits, sondern nach allen Debatten.

Die politische Katastrophenlandschaft vom 11. September über Afghanistan bis hin zu Ruanda und Genua, die der Documenta-Katalog quasi als Vorspann abmisst, bildet die Folie, vor der sich auch jene Kunst messen lassen muss, die sie nicht explizit thematisiert, wie die Arbeiten von Raymond Pettibon, Lisl Ponger oder Touhami Ennadre. Grausamkeit und Gewalt sind in den Bildern des Amerikaners Leon Golub, der in blassen, an Zeitungsfotos erinnernden Schablonen Folterungen, Vergewaltigungen, Verhöre und Attentate ausmalt, bedrückend real. Der in Uruguay aufgewachsene, in den USA lebende Luis Camnitzer versieht in den „Uruguayan Torture Series“ Fotos von durchbohrten Händen oder mit elektrischen Drähten umwickelten Fingern mit zynischen Bildunterschriften wie „He practised every day". Die Französin Annette Messager unterwirft - in einer ihrer bereits bekannten Rauminstallationen - niedlich ausgestopfte Stofffiguren bestialischen Folterakten, während der in London lebende Yinka Shonibare in „Gallantry and Criminal Conversation“ die „Grand Tour“ eines englischen Adligen in Szenen von sexuellem Missbrauch enden lässt. Die Opfer, in farbige afrikanische Stoffe gehüllt, sind kopf- und identitätslos. Der koloniale Kontext ist dennoch unverkennbar.

Zumeist jedoch hat die Kunst die brutale Realität überwunden und - paradoxerweise - in Schönheit übersetzt. Der Chilene Alfredo Jaar greift in „Lament of the Images“ drei Episoden der jüngeren Zeitgeschichte auf: Nelson Mandela, der während seiner Haftzeit auf Robben Island dort in einem Kalksteinbruch arbeiten musste und dabei fast sein Augenlicht verlor, Bill Gates, der ein gigantisches Bildarchiv in einer alten Kalkgrube einlagert und Schritt für Schritt digitalisiert und die ersten Bilder des Bombenteppichs auf Kabul. Diese Episoden, in schwarzen Leuchtkästen präsentiert, stehen am Eingang eines Tunnels, der den Besucher am Ende in gleißendes Licht entlässt - und den Schritt von Gewalt zur Blendung, vom Tod zur Erlösung schmerzhaft in die Netzhaut brennt.

Ähnlich arbeitet die Kubanerin Tania Bruguera, die den Besucher mit strahlend hellen Lampen blendet und einem akustischen Gewitter von Geräuschen aussetzt: das Zusammensetzen eines Gewehrs, das Klappern von Patronenhülsen und das bedrohliche Echo von Schritten. Wenn das erloschene Licht noch auf der Netzhaut flimmert, tauchen die n von Kriegsschauplätzen auf.

Die Documenta 11 zeigt: Nach jahrzehntelangen Debatten hat sich die Kunst auf ihre Kraft besonnen und behauptet mutig ihre Eigenständigkeit in einer Welt, die zwischen Wirklichkeit und künstlerischer Produktion immer weniger trennen kann. In dem Moment, in dem sie als tot erklärt wurde, kehrt die Kunst mit Macht in ihr angestammtes Reich zurück. Und dieses Reich ist das Museum. Weniger als die letzten Documentas expandiert diese in den Stadtraum. Nur Thomas Hirschhorns aufwändiges Bataille-Projekt erinnert an diesen erzieherischen Impetus: Die Anwohner aus der Arbeitersiedlung in Kassels Norden hängen im „Kiosk“ an der Theke, die Kunstbesucher diskutieren im Container. Ansonsten: keine 7000 Eichen, keine Erdkilometer oder Häuser für Schweine und Menschen. Enwezors Ausstellung hält sich an die klassischen Museumsorte. In deren weißen Räumen lässt sie die Kunst implodieren - wirkungsvoll wie lange nicht..

Am schönsten gelingt dies im Fridericianum. Hier sind zum Thema Erinnerung die großen Namen versammelt. Die Partituren und Berechnungen der minimalistischen Altmeisterin Hanne Darboven sind in der (halbierten) Rotunde wie in einem Sakralraum präsentiert - und verströmen eine klinisch kühle Klarheit. Sucht man nach einer Vereinigung von Anschauung und intellektueller Verarbeitung - so etwa müsste sie aussehen. Auch der zweite große Minimalist, On Kawara, hat im ersten Stock einen großen Auftritt. Seine „Date Paintings“ markieren das Verstreichen der Zeit: von seinem episch angelegten Projekt „One Million Years“ sind aus einer Funkkabine auf der Documenta Live-Lesungen geplant. Und in dem zum Kulturbahnhof mutierten ehemaligen Hauptbahnhof ist der COBRA-Maler Constant als visionärer Städteplaner zu entdecken.

Die Ernsthaftigkeit, mit der Darboven und Kawara ihren enzyklopädischen Themen über Jahre hinweg treu blieben, hat auf die jüngere Generation abgefärbt, die sich mit fast verzweifelter Nostalgie an das Bewahren des Vergangenen macht.

Der in Karlsruhe lebende „Typosoph“ Ecke Bock, der auch für das schlicht-elegante Documenta-Logo verantwortlich ist, widmet seine Arbeit der Sprachgeschichte. „Deutsches Wörterbuch“ zeigt die Frontispize aller Einzellieferungen des Grimmschen Wörterbuchs - und projiziert einzelne, durch Zufallsprinzip ermittelte Worte an die Wand. Abgesehen von so wunderbaren Blüten wie „Neiderzeit“ oder „Schwelkbühne“ ist das Pathos, mit dem hier eine historische Leistung geehrt wird, weit entfernt vom anything goes der Spaßgesellschaft.

Wo Kommentare nötig werden, greift man auf die Literatur zurück: Cerith Wyn Evans „Cleave 00“ übersetzt Textfragmente von William Blake mittels einer Discokugel in flirrende Sternwelten. Jeff Walls’ glamouröse Fotoarbeit „The Invisible Man“ bezieht sich auf einen Roman von Ralph Ellison. Man könnte noch die Tisch-Installation des in der Vorbereitungszeit verstorbenen Argentiniers Victor Grippo nennen, der alte Schulpulte mit Texten argentinischer Schriftsteller bemalte. Auch Mona Hatoums hinter Elektro-Zaun geschütze Haushaltswelt oder Chohreh Feyzdjous Trauer-Boutique, die Häute, Kohlen, Pergamente und Früchte in Einmachgläsern und Regalen archiviert, verklären alles Vergängliche.

Auffällig die zahlreichen Rekonstruktionen: Dieter Roth mit seiner berühmten, in ihrem fröhlichen Chaos unerreichten „Großen Tischruine“, die von Zigarrettenkippen bis hin zu Werkzeugen, Pinseln, Leimtöpfen, Radios und Fernsehern alles konserviert, ist das große Vorbild. Dagegen wirkt das „Atelier“ des kroatischen Bildhauers Ivan Kozaric lieblos zusammengeschustert. Die schon in der Berliner Ausstellung „The Short Century“ präsentierte Arbeit „Afrikanischer Sozialismus“ von Georges Adagbo wirkt dagegen beängstigend aktuell: Sein wucherndes Archiv hat auch die Documenta-Berichterstattung geschluckt und in das Panorama fortdauernder kolonialer Ausbeutung integriert.

Die Spätfolgen des Kolonialismus, Migration und Grenzen, die neue Transnationalität: All das hatte Enwezor als Themenschwerpunkte angekündigt. Angesichts der Künstlerauswahl muss man ihn fragen: Wo bleibt die Entwestlichung des Blicks? Wo die afrikanischen Künstler, die Inder, Südamerikaner, Chinesen und Eskimos? Natürlich erleben wir in den Fotografien Ravi Agarwals ein unbekanntes Indien, in den verlassenen Stadtlandschaften Michael Ashkins ein neues New Jersey, mit David Goldblatt das Johannesburg der 80er Jahre, mit Santu Mofokeng das Gefängnis auf Robben Island und mit Ryuji Miyamoto das japanische Kobe nach dem Erdbeben. Genauso fremd jedoch ist das Fachwerk-Sauerland des Düsseldorfer Fotografen-Paars Bernd und Hilla Becher. Vor der imaginären Kraft der Kunst wird die Frage nach der Nationalität bedeutungslos.

Die Frage, wie mit der Flut an Video-Kunst umzugehen sei, war schon auf der von Harald Szeemann kuratierten Präsentation auf der Biennale in Venedig ungelöst geblieben. Auch auf der Documenta besteht fast die Hälfte aller Werke aus Videoarbeiten. Die Laufzeiten der Filme summieren sich locker auf mehrere Tage.

In der Binding-Brauerei, dem neuen Standort auf der anderen Seite der Fulda, behilft man sich mit vielen kleinen Kinos, die in die Alkoven eingebaut sind. Daneben behaupten die stillen Fotoarbeiten Miyamotos oder humorvolle Skulpturen wie Maurice Pernices Hotel-Turm „Estrel“ nur mühsam ihre Eigenständigkeit. Denn das Wiener Architektenbüro Kühn & Malvezzi hat in das quadratische Gebäude ein Labyrinth eingestellt, das jedem Werk seinen Raum gewährt, jedoch nicht verhindert, dass die Installationen sich gegenseitig die Schau stehlen.

Der Grenzbereich zwischen Film und Video, die fiktionale Erzählung, von der sich die Bilder emanzipieren, führt ein Nomadenleben zwischen Filmfestivals und Kunstbiennalen. Hier findet sie nicht genügend Zeit, dort nicht genügend Publikum. Dennoch behaupten sich auch hier einige Arbeiten gegenüber der Konkurrenz von Fotos und Installationen. Ulrike Ottingers Sechs-Stunden-Epos einer Europa-Reise zieht mit seinem aufmerksam freundlichen Blick in den Bann. Auch Chantal Akerman hat für die Grenzsituation zwischen den USA und Mexiko berückend schöne Bilder gefunden.

Eija-Liisa Ahtila porträtiert in „The House“ eine junge Frau, die die Kontrolle über die Wirklichkeit in gleichem Maße verliert wie der Zuschauer die Kontrolle über die Bilder. Kutlug Ataman führt anhand eines Jahresporträts einer Blumenzüchterin vor, wie obszön das Sprechen über Blumen sein kann. Und Shirin Neshat hat - in der Tradition des iranischen Regisseurs Abbas Kiarostami - die karge Landschaft im Iran zum Schauplatz einer wortlosen Menschenjagd gemacht.

Jonas Mekas, der große amerikanische Independent-Regisseur, setzt mit seinem Werk schließlich so etwas wie das Motto der Documenta11. „As I was Moving Ahead Occasionally I Saw Brief Glimpses of Beauty“ heißt sein schon auf der Berlinale gefeiertes fünfstündiges Selbstporträt. „Brief Glimpes of Beauty“ sind jetzt auch in Kassel zu erhaschen - und das häufiger als auf Catherine Davids recht spröder Schau. Die Welt der Kunst vermisst diese Documenta nicht neu. Aber sie hat die alte Kraft der Kunst neu gefunden.

Documenta 11, bis 15. September in Kassel. Täglich 10 bis 20 Uhr. Der Katalog kostet 55 Euro, der Kurzführer 15 Euro. Eintrittspreise 16 / 10 Euro (Tageskarte), 24 / 15 Euro (Zweitageskarte), 7 / 4 Euro (Abendkarte). Informationen unter 0561 / 707270 oder www.documenta.de

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