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Kurzgeschichte von Rudolf Lorenzen: Sie schätzte sehr die rücksichtsvollen Gäste

Begegnungen und Beobachtungen in einem Berliner Gartenlokal

Als ich das Gartenlokal betrat, saß die Kellnerin an einem Ecktisch, vor sich eine Zigarrenkiste mit Ansichtskarten und eine Zigarrenkiste mit Kleingeld. Sie erwiderte meinen Gruß mit einem Kopfnicken und sagte dazu: „Sechzig, siebzig, achtzig“, denn sie zählte gerade ihre Zehnpfennigmarken. Als ich im Vorbeigehen fragte, ob ich etwas zu essen bekommen könnte, antwortete sie: „Neunzig, eine Mark, einszehn“, wozu sie wiederum mit dem Kopf nickte.

Ich setzte mich an einen Tisch in der Nähe der Kapelle, die gerade Pause machte. Ein Pappschild unterrichtete mich, dass ich an diesem Tisch von Fräulein Rosi bedient würde. Fräulein Rosi indessen begann mit dem Zählen der Ansichtskarten. Ich wartete einige Minuten, dann ging ich zum Buffet, um mir die Speisekarte zu holen. Die Kellnerin sah meine Bemühung und nickte mir freundlich zu.

Ich entschied mich nach der Durchsicht der Speisekarte für Leberklöße, überlegte mir aber anstatt des Salates, der zu den Leberklößen gehörte, lieber Gemüse zu bestellen. Ich formulierte diese Bitte, die Beilage auszutauschen in Gedanken, damit ich sie nachher bei der Bestellung recht sicher und weltmännisch vortragen könnte. Fräulein Rosi war inzwischen beim Zählen des Kleingelds angelangt. Als ich sah, dass sie auch hiermit fertig war und die beiden Zigarrenkisten schloss, rief ich nach ihr. Am Nebentisch saß eine Gesellschaft von acht Personen; sie hatten zwei Tische zusammengestellt und waren sehr fröhlich, obgleich sie auch noch nicht bedient worden waren. Als ich nach der Kellnerin rief, sahen sie sich erschrocken um, hielten den Finger an den Mund und sagten: „Pssst, pssst!“ Eine Dame drohte mir sogar leicht mit dem Finger. Ein älterer Herr aber, der einen feinen hellen Anzug trug und ein sehr gütiges Gesicht hatte, meinte freundlich: „Sie sind wohl nicht von hier? Sie müssen nämlich wissen, die Kellnerin, die dieses Revier hat, ist herzkrank. Seit Jahren nehmen wir alle Rücksicht auf sie.“ Nach einer Weile kam Fräulein Rosi. Sie trat aber nicht an meinen Tisch, sondern brachte der Gesellschaft am Nebentisch das Bier, das schon seit langem bestellt war. Als sie an meinem Tisch vorbeikam, sahen alle Gäste auf mich, weil sie fürchteten, ich würde die Kellnerin ansprechen. Ich wusste aber, was sich gehört, ich sah vor mich auf die Speisekarte und sagte keinen Ton. Da waren die acht Personen am Nebentisch erleichtert und lächelten mir zu. Auch das Ehepaar, das links von mir saß, sah mich freundlich an, und die Musiker, die sich in ihrer Pause drei Tische weiter zu einem Bier niedergelassen hatten, hoben sogar das Glas und prosteten mir zu.

Nachdem Fräulein Rosi für den Nebentisch auch die Speisen gebracht hatte, kam sie zu mir. Gewandt brachte ich meine Bestellung und meine besondere Bitte vor. „Gemüse“, antwortete sie jedoch, „kann ich Ihnen leider nicht geben. Gemüse ist heute so knapp, und wir brauchen das bisschen für die Speisen ab dreifünfzig.“ Dazu sah sie mich freundlich an, und als sie meine Enttäuschung merkte, fuhr sie fort: „Salat ist aber so gesund, warum essen Sie keinen Salat?“ Ich erklärte der Kellnerin, dass ich Salat nicht so gern esse, und sie meinte: „Nun, jeder hat eben seinen eigenen Geschmack, da kann man natürlich nichts machen“, und sie empfahl mir, ein teureres Gericht zu wählen, bei dem die Beigabe von Gemüse statthaft wäre. Ich bat, mir das noch einmal überlegen zu dürfen, aber das erlaubte Fräulein Rosi nicht.

Ich verstand das sehr gut und ließ zu, dass Fräulein Rosi sich einen Stuhl heranzog und an meinem Tisch Platz nahm, um sich ein wenig auszuruhen. Sie beriet mich bei der Wahl der Speisen und erzählte mir, dass sie jede Woche zum Arzt ginge. „Der Arzt sagt“, erzählte sie, „ich könnte mit meinem Herzfehler alt werden, nur darf ich mich nicht aufregen. Das zu vermeiden ist in meinem Beruf allerdings nicht leicht.“ Höflich fragte ich nach der Art ihres Herzfehlers, und sie erklärte mir die ärztliche Diagnose ausführlich sowohl mit lateinischen als auch mit deutschen Ausdrücken. Sie nannte mir auch den Namen ihres Arztes, dann schließlich empfahl sie mir Kalbsbraten.

Lange, aber geduldig, wartete ich auf das Essen. Als ich glaubte, dass das Gericht jetzt fertig sein müsste, kam ein Lieferant mit einem großen Pappkarton. Alle Kellnerinnen des Lokals sammelten sich um den Karton und öffneten ihn. Es waren Papierhüte und Lampions darin, die Lieferung war für das in wenigen Tagen stattfindende Gartenfest bestimmt. Die Kellnerinnen probierten die Hüte auf und traten vor den Spiegel. Dann tauschten sie die Hüte und traten wieder vor den Spiegel. Sie lachten dazu und griffen in den Karton, um immer wieder neue Hüte herauszuholen. Auch Fräulein Rosi lachte und trat immer wieder vor den Spiegel, mit einem blauen, einem gelben, einem grünen und einem rosa Hut.

Als jede Kellnerin jeden Hut aufprobiert hatte, kümmerten sie sich wieder um die Bedienung. Fräulein Rosi brachte mir den Kalbsbraten und meinte: „Es hat etwas lange gedauert, aber Sonntag haben wir ein Lampionfest, da ist noch eine Menge vorzubereiten, Sie sehen es ja selbst.“

Als ich später bezahlte, gab ich Fräulein Rosi ein reichliches Trinkgeld, weil sie es mit ihrem Herzfehler doch so schwer hatte, und weil sie trotzdem so freundlich zu mir war. Heute, Sonntag, überlege ich, ob ich zum Lampionfest in das Gartenlokal gehe. Ich glaube, ich gehe hin, denn ich möchte gern Fräulein Rosi mit dem rosa Hut sehen.

Diese Kurzgeschichte erschien zum ersten Mal im Tagesspiegel vom 28. August 1960

Von Rudolf Lorenzen

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