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Kultur: Landkarte der Sehnsucht

Auf Forschungsreise: Jenny Michels „Paradise“ in der Galerie Kunstagenten

Das Paradies ist nicht verloren, es liegt nur begraben unter einem Berg von Erwartungen. Jedenfalls führt die Künstlerin Jenny Michel in ihrer wunderlich versponnenen Ausstellung „Paradise“ in der Galerie Kunstagenten zu unbekannten Gestaden, märchenhaften Atollen und einsamen tropischen Inseln. Auf einer Weltkarte hat sie die Orte der Sehnsucht skizziert. Weiße Flecken markieren die unentdeckten Territorien. An einzelnen Stellen sind wie im Logbuch eines Seefahrers die Beobachtungen der Lüfte notiert: „Die Schatten spielen wohl immer mal verrückt, seltsam aber ungefährlich.“

Eine zweite Landkarte hat Jenny Michel weiß gelassen. Mit winzigen Nadelstichen hat sie den Vorstellungen vom Paradies Konturen verliehen. Die doppelte „Paradise Map“ (zusammen 6800 €) bezieht sich auf das Gedicht von Lewis Carroll „The Hunting of the Snark“. Darin sticht ein Kapitän zur See, im Gepäck nichts als eine leere Karte, auf der Suche nach einem Fabelwesen, dem Snark.

Die Arbeit kennzeichnet die Rolle, die Jenny Michel als Künstlerin einnimmt. Sie wirft alle vorgefertigten Vorstellungen über Bord und beginnt mit fast kindlicher Unschuld ihre Forschung am Gedankennetz, das die Welt zusammenhält. Hartnäckig untersucht sie ein Thema, dreht und wendet es, schürft und gräbt und fördert hauchdünne Gewebe zutage, die in sich schlüssig wirken, aber nicht unbedingt logisch sind. Vor dem Paradies galt ihre Aufmerksamkeit einem Element, das den Kitt des Universums bildet: dem Staub. Nun widmet sich die 1975 geborene Künstlerin den Wünschen und Vorstellungen. Geheimnisvoll leuchten Tuschegespinste – wie Engelshaar, in Harz gegossen. Jenny Michel versenkt das menschliche Wissen in einem Gräberfeld. Schicht um Schicht hat sie die Gedanken in Polyesterharz graviert (3200 €). Die Galerie präsentiert diese Palimpsest-Steine wie den Grabschatz eines Pharao.

Mit ihren filigranen Strukturen, vielschichtigen Zeichnungen und Beschriftungen gehört Michel, ähnlich wie Jorinde Voigt oder Paula Döpfner, zu einer neuen Generation von Molekular-Künstlerinnen, die direkt am Kern forschen. Sie erkunden unsichtbare Phänomene, machen Atmosphären erfahrbar und nehmen die Welt bis ins Kleinste auseinander. Sie interessieren sich nicht mehr für die verführerische Oberfläche der Populärkultur, sondern gehen den Funksignalen der vernetzten Gesellschaft nach.

Wie sonst könnte man auf die Idee kommen, Sisyphos ins Paradies zu schicken? Der Held lässt die Hölle auf Erden hinter sich und findet auch im Paradies nichts anderes als seine persönliche Hölle. Jenny Michel freut sich an dem Paradox und macht durch den Aufwand beim Zusammentragen ihrer winzigen Zeichnungen deutlich, dass sie ihre eigene Tätigkeit als Sisyphos-Arbeit begreift. Vielleicht macht der Weg glücklicher als das Ziel. Dann wären die Leerstellen in den Paradieskarten nur weiße Flecken in der Wahrnehmung.

Dass die Künstlerin bei Björn Melhus studiert hat, lässt sich an dem Film über einen Phantomteilchenforscher erkennen. Fast hellseherisch hat Michel das Atom zum Phantom mutieren lassen. Mit Safarihelm und Schmetterlingsnetz macht sie sich auf die Suche nach neuen Energien (8800 €).

Und das Paradies? Jenny Michels Kunst macht die Schönheit der Möglichkeiten sichtbar und die Aggressivität der Wünsche. Das Paradies scheint greifbar nah in dieser Ausstellung. Doch sobald man es zu sehen glaubt, taucht es ab zwischen den Nebelbänken der Erwartungen.

Galerie Kunstagenten, Linienstr. 155; bis 2.7., Mi-Sa 14-19 Uhr.

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