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Lange Nacht: Klassik ist lebendig wie lange nicht

Wenn am 11. April die zweite „Lange Nacht der Opern und Theater“ über die Berliner Bühnen geht, dann wird man sie wieder im Gewühl treffen: viele junge Menschen, die neugierig sind auf die angeblich so verstaubte Hochkultur. Warum es, allen Unkenrufen zum Trotz, keine Krise der Klassik gibt.

Gerade die Klassik – ob als Musiktheater oder als Konzert präsentiert –, zeigt sich in der Hauptstadt so lebendig wie lange nicht. Wann konnten die Besucher je aus einer solchen Vielfalt an experimentellen Veranstaltungsformaten wählen wie heute?

Dennoch ging ein mächtiges Raunen durch die Medienrepublik, als sich der Kulturwissenschaftler Martin Tröndle Anfang der Woche zu Wort meldete. Dem Konzertbetrieb stehe das Ende bevor, behauptete Tröndle. Er will herausgefunden haben, dass die Zuhörerzahl des Genres in den kommenden 30 Jahren um mehr als ein Drittel zurückgehen wird: „Es stirbt einfach aus.“ Das mag vielleicht für die Bodensee-Region zutreffen, wo Tröndle an der Zeppelin Universität Friedrichshafen lehrt, aber garantiert nicht für Berlin. Von einer „Musealisierung des Konzerts“, die der Forscher beklagt, kann hier keine Rede sein.

Mit seinen Kassandra-Rufen will Martin Tröndle Werbung machen für seine jüngste Publikation: „Das Konzert. Neue Aufführungskonzepte für eine klassische Form“, erschienen im Bielefelder Transcript-Verlag. Wer den Aufsatzband liest, weiß, dass die hier versammelten Analysen der Fachleute deutlich differieren, ja teilweise diametral zur Einschätzung des Herausgebers Tröndle stehen.

Das Durchschnittsalter der Konzertbesucher liegt derzeit bei 61 Jahren. Laut Tröndle hat es sich in den vergangenen 20 Jahren um 11 Jahre erhöht, das der Bevölkerung insgesamt aber nur um rund 3,4 Jahre. Wer sich daraus ein Horrorszenario zimmert, der verkennt allerdings, dass sich die markanten biografischen Einschnitte wie Berufseintritt, Heirat oder Elternschaft in derselben Zeit ebenfalls massiv nach hinten verschoben haben. Lebensplanungen verlaufen heute anders als noch 1990. Ganz abgesehen davon, dass auch etliche Fans von Bob Dylan, Lou Reed oder Madonna langsam das Rentenalter erreichen.

Zum anderen wächst eine neue Hörergeneration heran, die gewiss alle Prognosen der Forscher über den Haufen werfen wird – weil die Voraussagen auf der Fortschreibung von Langzeitbeobachtungen beruhen. Wer sich ein wenig mit der Musikvermittlung für Kinder und Jugendliche auskennt, weiß, dass in diesem Marktsegment in jüngster Zeit ein Quantensprung stattgefunden hat, sowohl bei der Qualität, als auch bei der Quantität. Die Berliner Philharmoniker und ihre Education-Events sind da nur das populärste Beispiel, alle Berliner Orchester haben längst Jugendprogramme aufgelegt. Wenn lediglich zehn Prozent der Kids, die jetzt in den Genuss all dieser Projekte kommen, später Abonnenten werden, muss keinem um die Zukunft der Klassik bange sein.

Die Veranstalter tun ja noch mehr. Sie locken nicht allein den Nachwuchs in die heiligen Hallen, sondern machen sich auch dezidiert Gedanken, wie man Erwachsene durch neue Aufführungskonzepte für das Genre gewinnen kann. Berlins drittes Konzertzentrum, das Radialsystem am Ostbahnhof, hat als Klassik-Labor eine Vorreiterrolle übernommen. Die vielfach kopierte Yellow-Lounge, bei der die Deutsche Grammophon ihre Stars in angesagten Clubs präsentiert, wurde in Berlin geboren. DSO-Chef Ingo Metzmacher schließlich importierte die amerikanische Idee des casual concert ganz bewusst in die deutsche Hauptstadt.

Wen übrigens die starre Kleiderordnung im Orchestermilieu ärgert, der möge sich mal bei Popkonzerten umschauen. Dort werden Dresscodes viel dogmatischer verteidigt als in der Klassik: Selbstverständlich würde kein Fan einer speziellen Pop-, Rock- oder TechnoRichtung die Musik „der anderen“ hören, geschweige denn deren Klamotten tragen! Das schwarz-weiße Outfit der Orchestermusiker dagegen verfolgt nur einen Zweck: den Zuhörern die Möglichkeit zu geben, sich ganz auf die Musik zu konzentrieren – weil sie das Ensemble auf der Bühne nicht als Ansammlung von Individuen wahrnehmen, sondern als Klangkörper. Ähnlich verhält es sich mit dem Frack des Dirigenten. Ist es nicht hilfreich, wenn ein Künstler, den man bei seiner intensiven körperlichen Tätigkeit den ganzen Abend von hinten sieht, sein Gesäß dezent hinter Schwalbenschwänzen versteckt?

Peter Schwenkow, der Chef der Deutschen Entertainment AG, hat eine interessante Theorie: Irgendwann, so weiß er aus eigener Erfahrung, wird den meisten Rockfans die Musik der Bands zu laut. Außerdem fühlen sie sich unwohl unter lauter Teenies. Dann kommen sie erst ins Waldbühnenkonzert der Philharmoniker, als Nächstes gehen sie zu einer Operngala mit Anna Netrebko – und schon sind sie bei der Klassik gelandet. Sie finden Gefallen daran, sich in die Musik zu versenken, ja, sie genießen es sogar, dass hier eine andere Zeitwahrnehmung existiert, die im Widerspruch zur Geschwindigkeit ihres Alltags steht. Für die Zukunft der Klassik gilt jener legendäre Slogan, mit dem in den Achtzigern kalorienreduzierte Wurstwaren beworben wurden: Ich will so bleiben, wie ich bin. Du darfst!

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