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Kultur: Langzeitbelichtungen

Heute eröffnet bei Max Hetzler in Berlin eine Ausstellung mit neuen Werken von Rineke Dijkstra

Es gibt Momente, die aus dem Gleichmaß des Alltags herausfallen. In diesen Momenten überschreitet man eine Schwelle und folgt – dauerhaft oder auch nur vorübergehend – einem neuen Rhythmus, mit einer neuen Wahrnehmung, in einer neuen Umgebung. Rineke Dijkstra, 1959 im niederländischen Sittard geboren, in Amsterdam ansässig und mittlerweile eine der international gefragtesten Künstlerinnen ihrer Generation, hat solche Lebenssituationen fotografiert: eine Mutter direkt nach der Geburt, einen Tag nach der Geburt, eine Woche nach der Geburt. Junge Männer und Frauen aus Israel vor, während und nach dem Militärdienst. Kinder am Strand am Beginn der Pubertät, Teenager in der Disco beim Übergang zum Erwachsenendasein.

In der Galerie Max Hetzler sind ab heute neue Bilder von Dijkstra ausgestellt. Sie zeigen ausschließlich Mädchen und was dabei als Erstes auffällt, ist der zunächst völlig unspektakuläre Charakter dieser Fotos. „Stephanie“, die ein rotes Kapuzen-T-Shirt trägt und Dijkstra im März letzten Jahres in der Saint Joseph Ballet School in Santa Ana/Kalifornien Modell stand, wahrt vielleicht momentan gerne etwas Distanz – nichts Ungewöhnliches bei jemandem, der so um die fünfzehn Jahre alt ist. Ansonsten aber ist da auf den ersten Blick nichts Besonderes: Stephanie, eine hübsche, ihrer Umwelt eher distanziert gegenüberstehende Jugendliche. Eine unter Millionen von Gleichaltrigen, bei denen gerade die Welt aus den Fugen gerät, doch das ahnt man mehr als dass man es sieht (20000 Euro, Auflage 10).

Rineke Dijkstra ist eine Meisterin im Erfassen von psychologischen Zuständen und Stimmungen, die sich dem Betrachter freilich erst nach und nach erschließen. Bei ihr entblättert sich die Komplexität einer Persönlichkeit buchstäblich und in aller Seelenruhe. Das wiederum ist nur deshalb möglich, weil Dijkstra sich bei ihrer Kunst an einige fundamentale Grundsätze hält. Nie drängt sich die Künstlerin selbst in den Vordergrund, sie arbeitet nicht mit Effekten und scheint beim Fotografieren keinerlei Einfluss auf ihre Gegenüber zu nehmen. Der Aufbau ihrer Bilder ist einfach, aber nicht schlicht, sondern folgt vielmehr den klassischen Prinzipien der Porträtkunst, wie sie seit Jahrhunderten gelten: Halbfigur, en face-Position, ernster Gesichtsausdruck.

Manchmal stellt sie die Mädchen vor einen Baum, wie die kleine Kora aus Berlin, die bei der nächsten Begegnung drei Jahre später schon nicht mehr ganz so klein ist, aber immer noch vor einem Baum im Tiergarten steht (Serien je nach Umfang 25000–80000 Euro, Auflage 10). Manchmal dient ihr als einziges Accessoire ein Stuhl, wie bei Almerisa, die Dijkstra fünf Mal in den vergangenen zehn Jahren fotografierte. Auch hier sind die Kompositionen frei von jeglichem Beiwerk, das vom Wesentlichen ablenken könnte.

Auf dem ersten Bild ist Almerisa ungefähr sieben, auf den letzten sechzehn Jahre. Dazwischen liegen Kindheit und Adoleszenz, doch was bedeuten diese dürren Worten schon angesichts der Entwicklung, deren Zeuge man da wird. Auf dem Auftaktbild aus dem Jahr 1994 ist Almerisa ein braves, offensichtlich nach den Vorstellungen ihrer Eltern gekleidetes Kind, das so wohl geraten ist, dass es schon beinah schmerzt. Auf dem zweiten Bild hat sich daran noch nicht viel geändert, doch auf dem dritten zeichnet sich langsam so etwas wie Eigensinn ab. Die Zöpfe wirken mädchenhaft frech, die schwarze Kleidung stilbewusst, die roten Turnschuhe selbst ausgesucht, und das feine Lächeln, das sie der Künstlerin schenkt, hat etwas Vorausahnendes bekommen. So geht das weiter bei Almerisa – von beginnender Aufsässigkeit über sich herausbildender Eleganz bis zur blühenden jungen Frau.

Das alles mag in seiner Allgemeingültigkeit austauschbar klingen, ist es aber nicht. Dijkstras Bilder sind alltäglich, doch weit davon entfernt banal zu sein. Sie illustrieren Begegnungen, die sich im Einzelbild und besonders in den Serien in ihrer zunehmenden Vertrautheit von der Künstlerin auf den Betrachter übertragen. Am Ende meint man, die Porträtierten selber kennen gelernt zu haben. Sie wolle, dass die Betrachter für die Dargestellten Sympathie empfänden, hat Dijkstra einmal gesagt. Das ist untertrieben, denn was man hier miterlebt, ist das Wunder und das Rätsel, das große Porträtkunst seit jeher ausgezeichnet hat.

Galerie Max Hetzler, Zimmerstraße 90/91, bis 4. Dezember; Dienstag bis Sonnabend 11–18 Uhr. Eröffnung heute von 18bis 20 Uhr.

Ulrich Clewing

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