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Kultur: Lass mich deine Stiefel küssen

Angelina Maccarones Film fürchtet keine Tabus

Da ist nichts Schwüles, Voyeuristisches im Film. Karge, ruhige SchwarzweißBilder, weite Einstellungen, wenig Ton. Und doch hat man am Ende das Gefühl, einem Menschen zu nahe getreten zu sein. Hat gesehen, wie nackt ein Gesicht sein kann, wenn es alle Emotionen ungeschützt spiegelt. Viel nackter, viel verletzlicher als bloße Haut. Ein Seelen-Strip.

Es ist das Gesicht von Maren Kroymann. Sie spielt die Bewährungshelferin Elsa Seifert, elegant, selbstbewusst, mit Begeisterung in ihrem Beruf aufgehend, eine schöne, starke Frau von 52. Die Männer im Gefängnis pfeifen ihr nach, wenn sie mit energischem Schritt durchs Tor geht, mit langem, wehenden Mantel, um ihren nächsten Schützling abzuholen. Nur dass sich das Fenster im Besuchszimmer nicht öffnen lässt, verunsichert sie kurz. Und dann, als sie noch kurz Wasser aus dem Hahn trinkt, ein prüfender Blick in den Spiegel, da ist ihr eigenes, vertrautes Gesicht. Und zwei fremde Augen, die sie beobachten. Ihr Schützling ist da.

Eine schwierige, höchst virtuose Gratwanderung, die Regisseurin Angelina Maccarone („Fremde Haut“) nach einem Drehbuch von Susanne Billig unternimmt. Zwei Menschen, eine 52-Jährige und ein 16-Jähriger, die – ja, was? Sich verlieben? Einander verfallen? Sich ausnutzen? Bis zum Schluss bleibt das offen, und darin liegt die besondere Stärke des Films. Sicher, da ist das Machtspiel, sie ist seine Bewährungshelferin, entscheidet darüber, ob er draußen bleiben darf oder nicht. „Wenn du tust, was ich dir sage, passiert dir nichts“, sagt sie als Erstes zu ihm. Und gleichzeitig ist sie eine ältere Frau, die Tochter zieht gerade aus, die Ehe ist längst in Gewohnheit erstarrt. Und er (absolut ebenbürtig: Kostja Ullmann) ist jung und schön und unschuldig. Wer wen verführt, ist nicht sicher: Sie genießt ihre Macht, er den Schmerz. Beobachtet sie. Verfolgt sie. Sucht ihre Nähe. Ein unterwürfiger Blick aus dunklen Augen: „Ich tue alles, was Sie wollen“. Irgendwann kniet er vor ihr, küsst ihr die Stiefel. Ist das schon Sex, Unterwerfung, Ausbeutung? Eine Grenzübertretung ist es auf jeden Fall. Und Elsa, die Selbstsichere, plötzlich hilflos.

Es ist ein gegenseitiges Tasten und Probieren, auch der Film tastet sich vor. Nicht, dass viel zu sehen wäre, ein paar Schläge mit der bloßen Hand, später mit dem Lineal, ein seidenes Halstuch als Fessel. Nichts von Leder-und- Lack-Ästhetik, alles sehr harmlos. Und für die Beteiligten doch mehr. Man sieht ihre Augen, sieht ihre Angst. Angst, zu weit zu gehen. Angst vor sich selbst. Und dann doch wieder Vorfreude, Glück. Natürlich lehnt die Umwelt sie ab, natürlich setzt sich der Mechanismus von Eifersucht, Gewalt und Dienstaufsicht in Gang, und natürlich hat diese Beziehung keine Chance, spätestens als die Träume vom gemeinsamen Leben und einer großen Reise nach Brasilien platzen. Und doch haben die beiden die weiteste Reise zusammen schon unternommen – die Reise nach innen.

Christina Tilmann

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