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Kultur: Lass’ nicht ab von mir

Michael Lentz erkundet in hundert Gedichten die Sprache der Liebe

Wie das Schwungrad die Uhr am Laufen hält, gibt es auch in der Liebe ein Räderwerk, das die Angelegenheit in Gang bringt. Ohne Sprache könnte man sich vermutlich kaum verlieben. Sie spurt das Gefühl, noch bevor ein geeignetes Objekt auf der Bildfläche erscheint. Ist es dann da, kann es bewundert und begehrt werden, womöglich gar von Angesicht zu Angesicht besungen. Die Stunde der Literatur aber schlägt zu anderer Zeit: wenn das Liebesobjekt durch Abwesenheit glänzt. Dann ist der Liebende mit der Sprache allein, die ihm Ängste eingibt, Sehnsüchte und Wünsche. In solchen Momenten greift auch der Laie gern zur gebundenen Rede, um später erschrocken festzustellen, wie grauenhaft sich anhört, was ihm so sehr am Herzen lag.

Wer dieser Gefahr entrinnen will, der hat mit den neuen Gedichten von Michael Lentz ein meisterliches Kompendium zur Hand. Hundert Gedichte sollten es werden, so hat es sich der 1964 geborene Autor für seinen vierten Gedichtband vorgenommen, und diese kühne Programmatik hat ihm nicht geschadet. Sprachbewusst und schön kontrolliert erkundet „Offene Unruh“ den Liebesschmerz in allen Varianten. Dabei erzählen die Gedichte nicht bestimmte Situationen nach. Statt zur Identifikation einzuladen, spielen sie mit dem Liebesdiskurs, so als könnte man die Worte, die sich um die Liebe ranken, wie einen Rosenkranz dahersagen, ohne dass sich je der lästige Eindruck des Gebetsmühlenhaften einstellt. Alles geschieht mit souveräner Nebensächlichkeit. Das Material bleibt kalt. Wir werden nicht zum Voyeur eines leidenden Ich. Erfahrungspartikel geistern durch diese Gedichte wie etwas Objektives, als hätten sie sich tatsächlich in der Sprache abgelagert und könnten ganz nach Bedarf aktiviert werden.

Kunstvoll und variantenreich evoziert Michael Lentz die klassischen Situationen des Liebenden in seiner Einsamkeit: das Warten, die Wiederholung, die Sehnsucht nach Erlösung, die Hoffnung auf Fortsetzung oder Neubeginn, die Entleerung der Welt nach dem Verschwinden des anderen, den Wunsch, die Erinnerung zu konservieren, das Gefühl des Überzähligseins, die Melancholie und die verschiedenen Methoden, den Verlust zu bewältigen, z. B. „liebe auf freundschaft zurücktrimmen“. Es gibt die um Gnade flehenden Stammelsätze der Liebe – „ich liebe dich / lass nicht ab von mir“ –, die höhnische Selbstverteidigung – „keine antwort ist nicht auch eine antwort / keine antwort ist der freie fall“ –, und es gibt die typischen Merksätze und Sentenzen, wie man sie sich in den siebziger Jahren als „Liebe ist“-Kettchen um den Hals hängen konnte: „die liebe ist ein wort das auf der stelle tritt“, „in liebesdingen ist jede entscheidung falsch“, „die liebe? ein viel zu kleiner schirm / der nur bei sonne taugt“.

Wie einen natürlichen Hallraum hat Michael Lentz Echos großer Vorgänger in seinen Band eingearbeitet: von der Bibel über Kant, Goethe, Hölderlin bis hin zu Rilke (von dem verblüffend vieles nachklingt) oder Ingeborg Bachmann und Inger Christensen. Auch der Sound von Herbert Grönemeyer ist manches Mal zu hören. Da wird jeder Leser seinen eigenen Background-Chor mitbringen. Wer ein Greenhorn ist in Lyrikdingen, muss sich auch nicht grämen. Es geht nicht um Gelehrsamkeit. Ein Gedicht allerdings entfaltet sein Potenzial nur, wenn man die Vorlage kennt. „habe die spülmaschine ausgeräumt“ ist eine parodistische Fortschreibung von William Carlos Williams’ „Nur damit du Bescheid weißt“. Während sich beim amerikanischen Vorgänger das lyrische Ich lakonisch entschuldigt, die Pflaumen aus dem Eisschrank gegessen zu haben, die das angesprochene Du sicher fürs Frühstück aufheben wollte, führt Michael Lentz einen Slapstick missglückten Spülmaschinenausräumens vor, bei dem die halbe Fracht zu Bruch geht und sich der heroische Ausräumer beim tätigen Liebesbeweis auch noch selbst verletzt.

Niklas Luhmanns „Liebe als Passion“ und Roland Barthes’ „Fragmente einer Sprache der Liebe“ sind, so scheint es, die Paten dieses Bandes. Vom einen nimmt sich Lentz den systematischen Zugriff auf die Codes, mit deren Hilfe wir von Liebe sprechen, vom anderen die emphatische Evokation. Nach seinem Roman „Liebeserklärung“ hat er mit „Offene Unruh“ ein weiteres Mal bewiesen, wie gut sich die Sprachartistik mit der Liebe verträgt. Auch sie ist eine Form und beileibe nicht nur ein Gefühl, das ganz von selbst den richtigen Ausdruck findet.

Michael Lentz:

Offene Unruh.

100 Liebesgedichte.

S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2010. 167 Seiten, 16,95 €.

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