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Kultur: Last Exit Lindau

Der schmale grauhaarige Herr, kurzärmlig und ganz in sommerlichem Weiß, könnte ein pensionierter Tennislehrer sein. Er hat ein Fernglas vor der heiteren Miene, nur ein kurzes Hüftkratzen, ein fußschabend angedeutetes Wadenjucken verrät einen Hauch Nervosität.

Der schmale grauhaarige Herr, kurzärmlig und ganz in sommerlichem Weiß, könnte ein pensionierter Tennislehrer sein. Er hat ein Fernglas vor der heiteren Miene, nur ein kurzes Hüftkratzen, ein fußschabend angedeutetes Wadenjucken verrät einen Hauch Nervosität. Im Rücken eine Bergkulisse schaut er herab ins Tal und reicht einem wie zufällig hinzugetretenen, nach dem Gipfelweg fragenden Wanderer sein Fernglas. Er wohne dort unten in einem Ferienhaus - ob der andere die Frau vor dem Häuschen sehe, die gerade die Wäsche aufhängt. Ja, sagt der Wanderer. Ob er sie auch erkenne. Nein, warum? "Sie hatten einmal eine Abtreibung mit ihr", antwortet der in Weiß; und die Frau dort unten sei, wie auch damals schon, seine Ehefrau.

So wird der kleine Talblick, mit einem Satz, gleich zum Blick in den Abgrund. So beginnt das neue Stück von Botho Strauß: "Unerwartete Rückkehr". Nach diesem Auftakt kann es nur böse enden.

Noch sind wir in den Bergen mit den beiden Herren, mit dem vor zwanzig Jahren gehörnten Gatten und dem sich mühsam erinnernden Ehebrecher - dem die in mittlerem Alter betriebene Affäre (wohl nicht zu Unrecht) als eine längst antiquierte Jugendsünde erscheint. Doch die Geister von gestern, die der Mann in Weiß als Eifersüchte und Mordgelüste wie eine nie ganz erkaltete Lava der Leidenschaft beschwört, sie ziehen auch hinein und hinunter in ein versunken geglaubtes West-Berlin der endsiebziger, frühachtziger Jahre: in einer Art Halbbohème zwischen Charlottenburg, Westend und Schöneberg, und jede Adressenangabe vergangener Ausschweifungen (ob Stuttgarter Platz oder Motzstraße) wird bei dieser Uraufführung durch Luc Bondy im Berliner Ensemble mit dem Nostalgie-Lächeln der Veteranen oder dem Ironie-Lachen der Jüngeren begrüßt. Dieser Abstieg in die Vergangenheit ist in der himmlischen Bergwelt ein höllischer Untiefenboulevard, und Peter Fitz als Gatte Stefan macht den zunächst sarkastisch souveränen Verführer - des Verführers. Klar: Das wird ein Duell.

Noch glaubt jener Clemens Wagner an eine nur beiläufige, zufällige Begegnung, der bald zu entkommen wäre. Zu Zeiten seiner Beziehung zur Stefans-Gattin galt er als aufstrebender Galerist, inzwischen scheint er ökonomisch und erotisch eher derangiert und ist in der Bergwelt oberhalb von Lindau offenbar auch ziemlich desorientiert. Frühere Überlegenheit und jetzige Verlegenheit drückt der Schauspieler Robert Hunger-Bühler (zuletzt Mephisto in Peter Steins "Faust") aufs Schönste aus: mit einem heiser verhangenen und bedeutungsvoll pomadigem Säuseltimbre, das einmal en vogue war als kulturelle Kopfstimme zwischen 68er Theaterkantine und bundesdeutschem Nachtfunkstudio. Damit kontrastiert Peter Fitz, graulockig toupiert, feriengebräunt und als ältlicher Gockel bisweilen mit einer onassishaften schwarzen Hornsonnenbrille bewaffnet: Fitzens Stefan Kauntzsch ist ein Mann, der es vorübergehend zum Verwaltungsdirektor der Staatlichen Museen gebracht hatte, und seit zwanzig Jahren plant und vollstreckt er die Rache einstiger Untreue. Ihn treibt im stillen Fitz-Furor eine penible Aasigkeit, die den Ruch von Lockung und Verwesung hat - wie sich bei diesem neuen und um eine gewisse fetzige Zeitgenossenschaft bemühten Strauß-Stück das Wort modern überhaupt in doppeltem Sinne verstehen lässt. Modern auf dem zweiten Laut, doch im Laufe des Abends immer mehr auf der ersten Silbe betont.

Was passiert? Im Ferienhaus, welches zwar im Lindauer Umkreis des Allgäus oder Vorarlbergs liegt, aber bei Strauß ein wenig romanisierter und schicker "Chalet" heißt, dort hält sich der 62-jährige Verwaltungsherr Kauntzsch neben der Ehefrau wundersamerweise noch eine 20-jährige Geliebte, eine Jungmalerin. Die Ehefrau mit Namen Ingrid ist Köchin und Dienstmagd, gewöhnlich vom Esstisch verbannt, dem Gatten aber hörig ergeben, weil dieser ihr am Ende der Wagner-Affäre einst das Leben rettete. Der Galerist und die Ehebrecherin nämlich schlugen sich, das reizte sie, und in der letzten Nacht langte Wagner wohl zu heftig zu und machte sich dann panisch aus dem Staub. Der Ehemann, der den beiden wie immer nachspioniert hatte, rief den Notarzt - womit er seinen Nebenbuhler zugleich vorm Totschlag bewahrte. Wagners Kunsthandel übrigens hieß: "Galerie Mittag". Jetzt, zwei Jahrzehnte später, ist High Noon.

Ja, nun. Im Kauntzschen Chalet Strindberg wird gegessen, palavert, einander beharkt. Frau Ingrid tritt aus der Küche wieder ins volle, fahle Leben. Auch der Gatte war unlängst und unverhofft mal wieder geil geworden, und der Ex-Geliebte, sich aus pomadiger Peinlichkeit aufraffend, bedrängt mal Frau Ingrid, mal das junge hübsche Ding, die Leonie, weil: mit einer neuen Malerin könnte vielleicht noch ein neues Geschäfts- oder gar Geschlechtsleben beginnen. Man zerrt sich und zankt sich, tritt dem anderen spitz ins Knie oder breit in die Seelenpfütze. Aber es ist ein zäher Kampf, immer auf der Stelle, zwei Stunden lang; und nichts geschieht wirklich - oder wenigstens betörend unwirklich. Nicht in Luc Bondys Inszenierung, und das wird zur einzigen, traurigen Überraschung des Abends.

Bondy ist ja der Meisterregisseur empfindlichster Stimmen und Stimmungen. Bei ihm werden sonst die verborgensten psychischen Regungen in Figuren und Texten leibhaftig, zum geistig-sinnlichen Vergnügen. Das hat er zuletzt in Wien und Berlin mit den Paaren und Paarungen in Rezas "Drei Mal Leben" und Crimps "Auf dem Lande" gezeigt, vor allem aber in seinen wunderbaren Strauß-Inszenierungen, von "Kalldewey, Farce" über "Die Zeit und das Zimmer" bis zum "Gleichgewicht" (in dem Botho Strauß über Treue, Ehebruch und Gattenliebe soviel Klügeres erzählte als mit der neuen Vierecksgeschichte). Diesmal wirkt Bondy wie gelähmt, und das hat die - ansich doch tollen - Schauspieler mit infiziert.

Nach dem jähen Anfang gibt es zwischen Fitz und Hunger-Bühler keine Fortsetzung mehr. Und Dagmar Manzel, so oft glänzende Protagonistin im Deutschen Theater und jetzt zurückgekehrt nach Berlin an Claus Peymanns Nachbarhaus, sie scheint sich fast körperlich unwohl zu fühlen in ihrer zwischen Demütigung und aggressivem Masochismus völlig unscharfen Ingrid-Rolle. Immerzu streichen ihre Hände über die nackten Arme, als cremte sie ihre angeblich schuppige Haut. Sie ist die Ferienhausputze, aber trippelt auf schwarzen High-heels im blauen Ausgehkleid durchs Stück - das ist so rätselhaft wie zugleich bedeutungslos, ähnlich der Großstadtkombination mit Schlips und Lederschuhen, die Hunger-Bühler alias Wagner durch die Bergwelt trägt. Und diese Bergwelt, durch wechselnde Hintergrundprospekte in modischer Gerhard-Richter-Unschärfe von Wilfried Minks, dem großen Bühnenbildner, zitiert, sie steht in einer Szene mal Kopf. Ein Traum? Ein Alp der Alpen?

Eher nur Pose. In Posen auch, die keine Situation und keine Bindung zum anderen ergeben, lässt das Stück, verlässt Bondy das Malermädchen Leonie. Selbst die fabelhafte Nina Hoss, die textgetreu ein Handy im Slip und eine Pistole im Straps trägt, fegt mit so angedeuteten Ausbruchversuchen die Stickluft nicht von der Bühne. Allzu andächtig hat sich Bondy dem - beim Lesen noch flüssigeren - Freundestext genähert; er zelebriert hier eine imaginäre Subtilität, wo kein Schnitzler ist und kein Tschechow, sondern ein teils alltägliches, teils gestelztes Deutsch ("Dieser Mann ist Millionen Galaxien entfernt von dir") - und viel banaler Beziehungsschmock. Bleilasten statt Bondys graziöser Leichtigkeit, die sonst auch das Schwermütigste erhebt. Hier fehlen Tempo und Schärfe, Distanz wohl und à la Castorf ein zweiter Wind. Ein Gegenwind.

So passiert in zwei langen Stunden nur das ein oder andere Augenblickstheater: wenn Dagmar Manzels Ingrid, rücklings auf dem Bügeltisch, den vor ihr stehenden Hunger-Bühlerschen Wagner, der die Abzweigung nach Lindau so fatal verpasst hat, noch einmal ihren Liebsten nennt, um ihn zu fragen, wer ihm "mit Zauberhand den Mann von der Stirn gewischt" habe. Und dazu streicht die Manzel ihm mit dem spitzen Schuhabsatz über die Brillengläser. Da bleibt ein Bild. Danach aber kehrt die gute alte "Mythe" wieder ein bei Strauß, der mänadisch zugerichtete Ex-Geliebte wird eingemauert, Fräulein Leonie besteigt ihn mit vorgehaltener Pistole in der Liebesgrabkammer, ach. Doch auch das ist nicht das Ende, wir kehren fast zurück zum Anfang - und dann, immerhin, eine Schlusspointe. Spät.

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