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Filigranes aus Baumwolle und Acryl. „Brumas E, B, C, A, G, D.“ von Olga de Amaral.

© Diego Amaral Ceballos

Lateinamerikanische Kunst in Paris: Von Mexiko bis Patagonien

In der Pariser Fondation Cartier repräsentieren 250 Arbeiten die Entwicklung von Malerei, Skulptur und Medien wie Fotografie in Lateinamerika.

Wie schwebende Bilder hängen die Arbeiten von Olga de Amaral im dunklen Raum. Gemacht hat sie die Künstlerin aus unzähligen Fäden, die jeder für sich kaum sichtbar sind. Zusammen aber bilden sie raumfüllende Figuren, in denen sich weitere geometrische Körper verbergen.

Die Ausstellung „Géométries Sud“ versammelt einen ganzen Schwarm dieser lichtscheuen Wesen. Entsprechend gedimmt und konzentriert wirkt die Atmosphäre in dem Teil der Pariser Fondation Cartier, der das Werk der kolumbianischen Textilkünstlerin beherbergt. Eine wichtige Position: Immerhin ist Olga de Amaral Jahrgang 1932 und damit prädestiniert für eine Gegenwart, in der laufend das Werk unterschätzter Künstlerinnen des 20. Jahrhunderts neu bewertet wird. Doch Europa lässt sich Zeit mit ihr. Umso mehr fällt „Géométries Sud“ ins Gewicht, denn die umfangreiche Schau einer privaten Institution zeigt die Diversität geometrischer Kunst von Mexiko bis Patagonien durch alle Jahrhunderte.

250 Arbeiten von über 70 Künstlern repräsentieren die Entwicklung von Malerei, Skulptur und Medien wie Fotografie in Lateinamerika. Vertrautes ist darunter, wie die kontrastreichen Acrylgemälde von Carmen Herrera, die vor nicht einmal zwanzig Jahren ihr erstes Bild verkaufte und nun – mit 105 Jahren – noch erleben darf, welche Anerkennung ihre Kunst inzwischen genießt. Ähnlich berühmt sind León Ferrari mit seinen konstruktiven Metallskulpturen, Hélio Oiticica oder Lygia Clark: beide lange verstorben und in der Ausstellung mit kantig gefalteten Objekten zu sehen.

Internationale Kunstgeschichte und eigenen Wurzeln

Für all diese Künstler gilt, dass sie im Dialog mit der westlichen Avantgarde waren und stets wussten, wohin die Moderne strebt. Was aber, wenn man die Arbeiten in Beziehung zur Vergangenheit der eigenen Kultur setzt?

„Géométries Sud“ tut genau dies, indem sie die Granden einer internationalen, übergreifenden Kunstgeschichte mit den eigenen Wurzeln konfrontiert. Die präkolumbischen Funde der Valdivia-Kultur Ecuadors sind ein Beispiel dafür, mit welcher Raffinesse harter Stein in vorchristlichen Jahrtausenden bearbeitet wurde. Die glatten Oberflächen der sonst schlicht gestalteten Figuren werden von geometrischen Mustern überzogen. Ähnlich wie bei der alten Zeremonienmaske aus dem heutigen Osten Kolumbiens. Sie trägt ein abstraktes All-over aus kleinen, vollkommen perfekt in die Keramik geritzten Kreisen.

Muster finden sich auch auf Gesichtern, die um 1935 das Interesse des französischen Ethnologen Claude Lévi-Strauss weckten. Er fotografierte die feine Malerei aus grafischen Punkten und Ornamenten bei den Frauen der indigenen Kadiweu, deren Nachkommen bis heute im Mato Grosso do Sul in Brasilien leben. Flankiert werden seine historischen Aufnahmen von Miguel Rio Brancos Farbfotos aus den achtziger Jahren: Der spanische Fotograf, Mitglied der legendären Agentur Magnum, hielt ebenfalls rituelle Körperbemalungen wie auch Tattoos fest.

Manchmal knallen Widersprüche aufeinander

Der Ausstellung in der Fondation Cartier dienen die beiden fotografischen Werke als Beleg dafür, wie tief die Sprache der Geometrie in den Kulturen verankert ist. Dass sie anderen Zwecken dient als etwa die folkloristischen Elemente auf den intensiv farbigen Gemälden der brasilianischen Malerin Beatriz Milhazes, versteht sich von selbst. „Géométries Sud“ unterstreicht diesen Unterschied dennoch, indem die Kuratoren diese und andere Dokumente im selben dunklen Raum ausstellen, wo auch Olga de Amarals fragile Hängeskulpturen zu finden sind. Dazu werden sie angemessen kommentiert: Ein Tribut an die wachsende Sensibilität im Umgang mit ethnologischen Dokumenten.

Zeichnungen etwa von Bruno Barrás, Keramik von Gustavo Pérez oder anonymen Schöpfern vergangener Jahrhunderte und Gonzalo Fonsecas kubische Plastiken runden eine Schau ab, die ein anderes, neugieriges Sehen lehrt. Es ergeben sich erstaunliche Bezüge, die mit ästhetischen Parallelen zur abstrakten geometrischen Moderne frappieren.

Manchmal knallen die Widersprüche auch zusammen wie im Foyer der Stiftung, wo die plakativen Fassaden und Interieurs des bolivianischen Architekten Freddy Mamani auf zarte Skulpturen der Künstlerin Gego stoßen. Tiefer könnte die Kluft kaum sein als zwischen den geometrisch inspirierten Buntmalereien und den unendlich zarten Konstruktionen der Bildhauerin, die 1912 in Hamburg zur Welt kam und 1994 in Venezuela starb. Aber vielleicht ist auch dieses absichtsvoll inszenierte Gegeneinander ein Kontrast, an den man sich gewöhnen kann.

„Géométries Sud“, Fondation Cartier, 261 Boulevard Raspail, Paris; bis 24.2.

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