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Kultur: Laute Blicke, stumme Schreie

Achsenkreuz, Diagonalkreuz, Körperkreuz. Eine Bewegung von innen nach außen und umgekehrt.

Achsenkreuz, Diagonalkreuz, Körperkreuz. Eine Bewegung von innen nach außen und umgekehrt. Ein Spiel auf der Grenze zwischen Natürlichkeit und Künstlichkeit. Zwei Pionierinnen des deutschen Tanztheaters haben gemeinsam ein Stück geschaffen: Reinhild Hoffmann und Susanne Linke. Zwei Charaktere, wie sie unterschiedlicher kaum sein können: kühl und beherrscht die eine, lebhaft und leicht die andere. Ihre Fähigkeiten addieren sich nicht bloß, sie reiben sich aneinander und erzeugen zusammen als drittes Element den Raum.

Den hat ihnen der bildende Künstler Dieter Appelt als luzides Gehäuse erschaffen, dreiseitig umgeben von transparenten, mit Segeltuch bespannten Wänden. Darinnen zwei rollbare, L-förmige Objekte, mit denen sich die Akteurinnen ihren Ort immer wieder neu definieren können. "Über Kreuz" ist eine in zwei großen abstrakten Blöcken und zwei persönlichen Solo-Intermezzi gegliederte Meditation über Mensch und Raum. Doch nicht nur als freies Spiel der Formen versteht sich dieses Stück, sondern auch als Kreuzungspunkt zweier Biographien. So haben Hoffmann und Linke den Abend als Hinweis auf ihre tänzerische Herkunft mit zwei Filmen (Walter Lenertz) flankiert: einer animierten Tanz-Partitur in der Notation Rudolf von Labans und einer Raumskizze von Mary Wigman.

Als Schattenspiel vor geschlossener Wand beginnen die beiden Solistinnen ihre Exkursion in das Reich der Geometrie zu den ironischen Klavierreminiszenzen von Helmut Lachenmann. Dann hellt der Raum auf: Hoffmann umschlingt den Mittelpunkt des Achsenkreuzes mit Armgesten, während Linke sie mit raumgreifenden Schrittkombinationen umspielt. Schließlich wechseln die Akteurinnen Position und Bewegungsthema. Im Diagonalkreuz zur wundersam schwebenden Musik von Salvatore Sciarrino beginnen die Lebensachsen sich zu schneiden, kommen sich bedrohlich nahe, ohne sich doch je zu berühren. Reinhild Hoffmann erscheint jetzt im langen schwarzen Rock wie eine tänzerische Diana mit einem Hirschgeweih in der Hand. Wenn sie den Mund zum stummen Schrei öffnet, ist sie Jägerin und waidwundes Opfer zugleich. Das Thema nimmt sie mit in ihr Körperkreuz-Solo. Im hellsilbernen Abendkleid sichert sie Erinnerungsspuren, zeichnet behutsam mit den Händen ihre Körperkonturen nach. Erst ganz am Ende begegnen sich die beiden Protagonistinnen, als hätten sie sich all die Zeit immer in der Nähe gewußt, aber nicht anzuschauen gewagt. Der Zielpunkt des 75minütigen Abends weist weit über die persönliche Biographie hinaus. Die außerordentliche Präsenz der beiden Tänzerinnen trägt den Zuschauer zu Horizonten eines Bewußtseins im Raum, das nur ganz wenige Darsteller erreichen.

Noch heute im Hebbel-Theater, 20 Uhr

NORBERT SERVOS

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