zum Hauptinhalt

Kultur: Lauter leere Sessel

Schüsse im spanischen Parlament: Das eindrucksvolle Buch von Javier Cercas über den Putschversuch 1981

Von Michael Schmidt

Der Autor als Pathologe: Auf 560 Seiten seziert der Romancier und Publizist Javier Cercas einen, wenn nicht den historischen Moment der jüngeren spanischen Geschichte. Sein Autopsiebericht trägt den Titel „Anatomie eines Augenblicks“: Es geht um den frühen Abend des 23. Februar 1981.

Während der Abstimmung über Spaniens neuen Ministerpräsidenten, stürmt eine bewaffnete Einheit der Guardia Civil unter Führung des Oberstleutnants Tejero das Parlament. Mit dem Befehl „Alle auf den Boden“ beginnt ein Drama, das achtzehneinhalb Stunden dauern und die erst wenige Jahre zuvor errungene spanische Demokratie an den Rand des Untergangs bringen wird. Schüsse fallen. Alle suchen Deckung, legen sich auf den Boden, verschanzen sich in den Sitzreihen – alle bis auf drei: der zurückgetretene, aber noch amtierende Ministerpräsident, Adolfo Suárez, der Vizepräsident, General Gutierrez Mellado, und der Chef der Kommunistischen Partei, Santiago Carrillo, bleiben, aufrecht sitzend oder stehend trotzen sie Drohung und Gewalt.

Das Fernsehen übertrug das Spektakel, ein paar Minuten jedenfalls, dann brach die Übertragung ab. Die Bilder, für das kollektive Gedächtnis der Spanier von ähnlich ikonografischer Bedeutung wie in Deutschland die vom Herbst 1989 oder weltweit die der einstürzenden Türme des World Trade Center, gingen um die Welt.

Es sind Bilder einer Geste. Einer Geste, die den promovierten Philologen und Sohn eines Tierarztes Javier Cercas nicht mehr losließ, seit er sie zum ersten Mal bewusst wahrnahm. Sie wird ihm zum Zeichen, das es zu lesen gilt, zum Symbol, das er zu dechiffrieren sucht. „Die Schreie, Schüsse, das schreckensstarre Schweigen im Halbrund des Saales – und mittendrin dieser Mann, der den Rücken an die Lehne seines blauen Ministerpräsidentensessels presst, einsam, gespenstisch, einer Statue gleich, umgeben von lauter leeren Sesseln“, schreibt Cercas. „Auf einmal ging eine geradezu hypnotisierende Wirkung von dem Bild aus, es leuchtete, war unendlich komplex und überreich mit Bedeutung aufgeladen.“ Eine „mutige und anmutige Geste, eine Geste der Rebellion und eine Geste souveräner Freiheit, eine für die Nachwelt bestimmte Geste“. Es ist diese Geste und es ist dieser Augenblick, den der 1962 Geborene in seinem so klug wie unorthodox komponierten Buch zu verstehen versucht und den er, eine Tiefenschicht nach der andern freilegend, verstehbar macht.

Cercas führt jene Kräfte, Motive und Traditionen vor Augen, die zu dem Putsch führten, als Spaniens Zukunft plötzlich auf des Messers Schneide stand. Er zeigt: Die politisch und menschlich ausgesprochen ambivalenten Protagonisten dieses Abends kannten sich seit Jahrzehnten. Sie gehörten Parteien an, die sich seit dem Bürgerkrieg 1936 und der nachfolgenden Diktatur in tödlichem Hass gegenüberstanden. Und sie leiteten nach dem Tod des faschistischen Diktators Franco die Demokratisierung ein. Helden sind sie nicht, nicht im klassischen Sinne, allenfalls als Helden des Verrats verdienen sie Respekt. Denn nur der Verrat, meint Cercas, machte möglich, was an diesem Tag geschah. Der Kommunist verriet die Revolutionsidee, der General das Militär, der Präsident die Faschisten. „Mit dem Verrat verbinden wir normalerweise nichts Positives“, schreibt Cercas, „dabei ist der Verrat oft viel ehrlicher, großzügiger, mutiger und virtuoser.“

Cercas zeigt, inwiefern soziale, wirtschaftliche und politisch-mentale Strukturen die Handelnden prägten – und inwiefern die Handelnden ihrerseits dem Geschehen ihren Stempel aufdrückten. Vor allem aber zeigt er: Mit dieser Geste wird Spaniens Demokratie gerettet und erst in diesem Augenblick endet der Franquismus. Doch vor, während und nach den Schüssen im Parlament hätte alles auch ganz anders kommen können als es kam: Nachts um viertel nach eins sprach König Juan Carlos im Fernsehen und rief die Aufständischen in die Kasernen zurück. Am Vormittag des 24. Februar gaben die Geiselnehmer auf.

Cercas gelingt in einem großen Wurf, woran andere, so sie es denn versuchten, bisher scheiterten: eine Interpretation dieses Moments jenseits schablonenhaften Denkens und ideologischer Argumentationen. Ein vorurteilsfreier Blick, der mit in Spanien lieb gewonnenen Lesarten aufräumt, wie jener, dass das Volk in den Tagen des Putsches kühlen Kopf bewahrt und die Politik souverän reagiert habe.

Spannend ist die Frage nach dem, was das eigentlich ist, was Cercas vorlegt: Ein Essay? Eine Chronik? Eine Biografie? Tatsächlich wollte Cercas zunächst einen Roman schreiben. Davon kam er ab, zu interessant war die Wirklichkeit selbst. „Meine Ausgangsidee war es, eine Fiktion zu schreiben, ich bin Romancier, und so habe ich eine Version eines Romans geschrieben und dann noch eine weitere, aber irgendetwas stimmte nicht, bis ich schließlich feststellte, dass sich um den 23. Februar herum ein Haufen Fiktionen, Halbwahrheiten, Legenden gebildet hatten, dass der Putsch eine Art kollektives Delirium ist und es also völlig redundant wäre, eine weitere Fiktion zu erfinden“, schreibt er in seinem Vorwort.

Doch ein ausschließlich an Fakten und Daten orientiertes Geschichtsbuch, dem sich „bislang unbekannte Tatsachen oder für das Verständnis unserer jüngsten Vergangenheit bedeutsame Beiträge“ entnehmen ließen, wolle das Werk auch nicht sein. Was dann? Ein Versuch, der Wahrheit nahezukommen. Mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln: dokumentarischen wie erzählerischen.

Das Ergebnis, eine faszinierende Mischung aus Erkenntnissen und Betrachtungen, Mutmaßungen und Fragen, liest sich spannend wie ein Roman. Es gewinnt der viel beschriebenen Episode des 23. Februar eine unvergleichlich detailreiche Tiefe ab, wie man sie von einem Sachbuch erwarten kann. Und bei alledem lässt es den Leser auch noch wie beiläufig den Charakter dieses politisch so ungeheuer zerrissenen Landes an Europas westlichem Rand besser verstehen.

Pathologen sind Mediziner, aber keine Ärzte, die Wunden heilen. Der Autor Cercas hat das auch gar nicht versucht. Er hat vielmehr, wie es sich für einen Pathologen gehört, Herkunft, Entstehung, Verlauf und Auswirkungen eines möglicherweise krankhaften Phänomens untersucht: den Umgang der Spanier mit ihrer Vergangenheit.





– Javier Cercas:

Anatomie eines Augenblicks. Die Nacht, in der Spaniens Demokratie gerettet wurde. S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2011. 569 Seiten, 24,95 Euro.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false