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Kultur: Leben auf offener Strecke

Goldene Palme für Terrence Malick: In Cannes triumphieren die moralischen Geschichten

Was für ein Augenblick, als Jurypräsident Robert de Niro, einer der großen alten Männer des amerikanischen Kinos, die Bühne betrat – und alle im Saal erhoben sich zur Ovation, als bekäme er selbst einen Preis fürs Lebenswerk! Was für ein heiterer Jubel auch, als er in schönem Kauderwelsch zwischen Französisch und Englisch bekannte: „Wir haben unser Bestes versucht, und ich hoffe, es ist okay“! Als er aber später, erschöpft am Ende der Ehrungen, knapp die Goldene Palme für „The Tree of Life“ verkündete, da hatte das kollektive Wohlbefinden seinen Höhepunkt deutlich überschritten.

Regisseur Terrence Malick, der bereits 1978 für „Days of Heaven“ die Goldene Palme gewann: abwesend wie die ganze Zeit in Cannes, von einem Getreuen wegen Menschenscheu entschuldigt. Und somit auch beschützt vor den Buhs, die sich, wie schon zur Premiere seines Films, im angrenzenden Pressesaal erhoben. Da tat die herzensfrische Erinnerung an Kirsten Dunst noch einmal gut, die Hauptdarstellerin aus Lars von Triers „Melancholia“, die den Preis für ihre Rolle als depressive Braut in den letzten Tagen der Menschheit erleichtert so kommentierte: „Was war das bloß für eine Woche! Sowas passiert einem nur einmal im Leben.“

Immerhin, ein Happyend. Für einen eindrucksvollen Endzeitfilm, der trotz der unsanften Festival-Ausladung seines Regisseurs im Wettbewerb geblieben und von der Jury berücksichtigt worden war. Und für Terrence Malicks umstrittenen Weltneuschöpfungsfilm, der die Geschichte einer unglücklichen Jungskindheit in Texas mit bombastischen Planetenbildern und einem meist im Predigerton gehaltenen Off-Kommentar umstellte. „The Tree of Life“ ist ein Film, in dem eigentlich Gott die Hauptrolle spielt, ein Gott wohlgemerkt, der da droben im Himmel wohnt. Für manche war der Film eine Offenbarung. Andere sagten lieber gleich Amen.

„The Tree of Life“ markierte gewiss am radikalsten den Trend dieses Festivals zum großen Gefühl, das das Gute, Wahre, Schöne im Zuschauer mobilisiert. Nur dass andere Regisseure den Kinosaal vielleicht in eine moralische Anstalt, jedoch nicht gleich in eine esoterische Weihestätte verwandeln. Schon am Vortag hatte Andreas Dresen für sein packendes Sterbedrama „Halt auf freier Strecke“ den Preis der Nebenreihe „Un certain regard“ erhalten – ein großer Erfolg für den sonst dieses Jahr in Cannes bescheiden auftretenden deutschen Film. Die Inszenierung der letzten Lebensmonate eines Tumorkranken mit Milan Peschel in der Hauptrolle ist ein energisches Plädoyer an Familien, Sterbende zu Hause zu pflegen, weil der Tod zum Leben gehört. Vielen Zuschauern war diese extreme Herausforderung zur Empathie wegen ihrer formalen Disziplin und emotionalen Kraft als durchaus palmenwürdig erschienen. Doch soviel wert wie ein Berlinale-Bär ist Dresens neuer Lorbeer allemal.

Eindringlich entschieden sich auch viele andere Filmemacher in ihren Geschichten für die warmherzigste oder zumindest zweitschrecklichste Lösung. Die Welt ist kalt, da wollen wir es im Kino schön warm haben? So einfach macht man es sich nicht, aber selbst Regisseure, die für ihren illusionslosen Blick auf die menschliche Existenz gerühmt werden, spiegeln – oft in subtilen Subtexten – ein derzeit offenbar universelles Versöhnungsbedüfnis.

Die Jury schien dem auf ihre Weise zu folgen. Aki Kaurismäkis modernes Märchen „Le Havre“ um ein afrikanisches Flüchtlingskind, das erfolgreich vor der Polizei versteckt wird, ließ sie zwar beiseite; doch der Film hielt sich wegen seiner unerhörten Leichtigkeit bis zuletzt als Publikums- und Kritikerfavorit. Auch „Le gamin au vélo“ der Brüder Dardenne, mit dem Großen Preis der Jury ausgezeichnet, gibt seinem widerborstigen kleinen Helden Hoffnung. Der Junge mag schrecklich vom geliebten Vater verlassen sein – macht nichts, solange gute Geister zu ihm stehen. Oder Nuri Bilge Ceylan: In seinem ebenfalls preisgekrönten, mit zweieinhalb Stunden etwas lang geratenen ländlichen Polizei- und Justizdrama „Es war einmal in Anatolien“ vereitelt ein Arzt die strafverschärfende Aufklärung eines Sachverhalts, weil die Folgen der Sache selbst schon schlimm genug sind.

Starke Filme aber – und es gab reichlich davon – spielten diesmal in Cannes nur eine Nebenrolle. Erst zog die Reality Soap um Dominique Strauss-Kahn tagelang alle Aufmerksamkeit auf sich, dann gab das Nazi-Gefasel des Lars von Trier dem Festival zeitweise nahezu den Rest. Am schmerzhaftesten litten darunter jene iranischen, dem Berufsverbot trotzenden Regisseure, denen Cannes ein besonders wirkungsmächtiges Podium sein wollte: Jafar Panahi und Mohammad Rasoulof.

Während die Vorführtermine für Panahis per USB-Stick aus dem Iran geschmuggelte Tagebuch-Doku „In Nisi Mist“ (Dies ist kein Film) mitten in den Krach um Lars von Trier fielen, wurde Mohammad Rasoulofs „Bé omid é didar“ (Auf Wiedersehen) früh in der Reihe „Un certain regard“ gezeigt. Sein Porträt einer Anwältin (Leyla Zareh), die sich im Dickicht von Willkür und Bürokratie unerschütterlich um ein Ausreisevisum bemüht, bis ihr nahezu alle Lebensgrundlagen entzogen sind, war die düsterste Vision des Festivals. Ihre Wohnung bleibt so blaugrau entfärbt wie die Amtsstuben, die sie aufsucht, und irgendwann wirkt auch ihr Gesicht marmorn wie das einer Schmerzensmadonna. Leben geht anders, sagt der Film, Leben geht nur noch woanders.

Tagelang hatte es in Cannes Gerüchte gegeben, dass Rasoulofs Reiseverbot aufgehoben und deshalb mit seinem Auftritt noch zu rechnen sei. Bei der „Certain regard“-Preisverleihung aber, die das Glück des Andreas Dresen war, stand die Ehefrau Rasoulofs auf der Bühne und nahm stellvertretend den Regiepreis entgegen. Mit schöner, nahezu modulationsloser Stimme erklärte sie die Abwesenheit ihres Mannes damit, dass er die Freiheit des Reisens nicht in Anspruch nehmen wolle, so lange sie Jafar Panahi versagt bleibe. Ein leiser Satz nur im Getöse dieses 64. Festivals von Cannes. Aber einer, der alles erklärt.

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