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Kultur: Leben hinter der Wand

Von Rico Czerwinski Wenn Frau Jütte sagen soll, was sich verändert hat in 28 Jahren, dann möchte sie eigentlich gar nichts sagen. Soll sie sagen, dass draußen die Pappeln gewachsen sind?

Von Rico Czerwinski

Wenn Frau Jütte sagen soll, was sich verändert hat in 28 Jahren, dann möchte sie eigentlich gar nichts sagen. Soll sie sagen, dass draußen die Pappeln gewachsen sind? Das stimmt. Dass sie schräg gegenüber ein Kino gebaut haben? Kann man vom Fenster aus sehen. Aber sonst? Sie kann zum Spiegel gehen. Ihre Kleidergröße hat sich verändert, ihre Haarfarbe, ein bisschen. Sie sieht insgesamt ein bisschen anders aus als vor 28 Jahren. Die Augen, die Hände. Das ist wahr. Nur wenn es darauf nicht ankommt?

Wenn Frau Jütte sagen soll, was sich verändert hat, muss sie an ihre Eltern denken. Wie sie vor einigen Wochen auf ihrer Goldenen Hochzeit sagten: 50 Jahre, das ist gar keine so lange Zeit. Und wie Gert und sie sich ansahen und dachten: 28, das ist überhaupt nichts. Obwohl es ja fast ein halbes Leben ist. Frau Jütte kann sich das auch nicht so richtig erklären, und sie möchte nicht dumm klingen oder unehrlich. Und es klingt ja auch wirklich unglaublich, aber die Wahrheit ist, dass sie an manchen Tagen denkt, dass die Zeit an ihnen vorbeigelaufen ist. Dass die Zeit Gert und sie vergessen hat.

Ob das an ihrem Leben liegt, an ihrer Ehe, so wie sie war? Frau Jütte würde ihre Ehe mit Gert nicht als etwas Besonderes beschreiben. Als nichts Besonderes im Sinne von Ehen, wie sie im Fernsehen gezeigt werden. Bei Gert und ihr gab’s keine Schicksalsschläge und keine Lottogewinne, es gab keinen Jubel und keine Szenen. Keine Schreikonzerte. Keine Chance bei Bärbel Schäfer. Wenn Carola Jütte Bilanz ziehen sollte, würde sie sagen: Gert und sie waren verheiratet, ein Kind. Sie waren Hochhausbewohner, Plastiktütenträger. Ein Industriemechaniker und eine Kindergärtnerin. Massenware aus Marzahn.

Also eine ganz normale Geschichte? Was heißt schon normale Geschichte. Eine Geschichte, die nicht im Fernsehen läuft, sondern hinter den Wänden im Flur, hinter einer glatten, grau lackierten Tür. Eine Geschichte, von der man nichts weiß, weil man nichts von ihr hört, weil sie so leise ist. Eine von vielen. Die von Carola und Gert.

Das Wort „normal“ hört Carola in ihrem Zusammenhang übrigens nicht gern. Sie könnte jetzt von Frauen anfangen, die Rüschenblusen tragen und von ihrem eigenen Faible für bunte T-Shirts, aber es gibt Wichtigeres. Carola Jütte sagt, dass Gert und sie sich von anderen unterschieden haben. Sie sagt: „Wir waren ja nichts Besonderes, aber wir sind aus dem Rahmen gefallen."

Zum Beispiel wie sie sich trafen, das liegt bei Gert und ihr ja schon sehr lange zurück. Gert und sie waren noch Kinder, in den 50er Jahren, und Gert war zwei Jahre jünger als sie. Ihre Eltern wohnten damals in der gleichen Straße in Berlin-Weißensee, und eigentlich spielten ja Mädchen immer mit Mädchen, und Jungs spielten Fußball im Park. Nur Gert nicht, der malte mit Carola Wohnungen aus Kreide auf die Straße und spielte Mutter, Vater, Kind. Die anderen haben gelacht, aber das war nicht wichtig.

Bestochene Hotelportiers

Als sie sich zum zweiten Mal trafen, war das wieder sehr ungewöhnlich, und wieder hatten andere was dagegen. Gert und sie hatten sich zehn Jahre aus den Augen verloren, und was nach dieser Silvesterfeier zu ’71 passierte, war ja richtiggehend verboten. Carola war 18, Gert noch nicht 16, und der „Schutz von Minderjährigen vor sexuellen Handlungen“ kein Witz in der DDR.

In den nächsten Monaten mussten Eltern ausgetrickst und Hotelportiers bestochen werden. Zur Hochzeit verteilten sie orangefarbene Einladungskarten, die waren über Westverwandte besorgt und so ungefähr das Eindrucksvollste, was man sich vorstellen konnte. Carola findet, auf dem Foto sehen sie sehr schön aus. Auch Gerts Anzug war von drüben, das haben einige nicht gern gesehen. Was sie gar nicht gesehen haben: Dass Gert und sie besoffen waren. Noch vom Polterabend, hat aber trotzdem alles geklappt. Nur, dass sie mal wieder auf der falschen Seite stand, Männer gingen doch eigentlich immer auf der rechten, und die Frau auf der linken Seite, nur Gert und sie nicht, schon immer.

Damals hatten Gert und sie einen Traum. Eine eigene Wohnung mit Bad. „Wir haben dann alle Hebel in Gang gesetzt, wir waren ja Arbeiterklasse.“ Am 12.12.1977 sind sie eingezogen, zwei Zimmer, Küche, Bad. 57 Quadratmeter, 9. Stock. Marchwitzastraße 42. „Aber Freudentänze haben wir nicht aufgeführt“, sagt Carola, „so theatralisch sind wir nicht. Am Abend stand ein Blumentopf auf dem Tisch. Dann waren wir zu Hause."

Das war auch so eine Eigenart von Carola und Gert: „Dass wir immer auf dem Teppich geblieben sind.“ Und das ist noch untertrieben, zum Beispiel die Hochzeit.

„Nach Heulen“, sagt Carola, „war mir gar nicht zumute“. Und von Gert aus hätten sie „den ganzen Aufwand auch weglassen können. Wir haben ja auch vorher schon zusammengehalten. Das mit der Hochzeit war mehr so nach außen hin.“ Oder was ihnen an einander gefallen hat, Carola: „Wir haben halt zusammengepasst. Und für meinen Körper hat er sich interessiert, aber ich hatte auch ein Auge auf ihn geworfen.“ Oder nach Ilkas Geburt, für Gert war das: „Ein schönes Gefühl. Und gesund war es auch. Robust. Konnte man überall mit hin nehmen."

Es war eine aufregende Zeit damals, die aufregendste vielleicht. Eine Zeit, in der bis in die Nacht geschuftet wurde, telefoniert und organisiert, in der sie Kindersachen besorgen mussten, Spielzeug, Auslegeware. Die Zeit, in der sich auch Dinge wie das mit dem „immer auf dem Teppich bleiben“ einstellten, ohne dass man das irgendwie besprochen hätte. Es war die Zeit, in der Carola und Gert sich auf eine Grundausstattung verständigten, auf ein Bett, ein paar Stühle, Lampen, Ideen. Auf Mosaikstücke, die noch nicht vollzählig waren, aber zusammmengesetzt ergaben sie schon damals etwas, was nur ihnen gehörte, eine eigene Welt.

Gert sagt: „Wir haben einfach eins nach dem anderen gemacht. Das war alles ganz natürlich. Wir haben gar nicht viel nachgedacht.“ Und dann? „Dann ging der Alltag los. Arbeiten, Schichtdienst.“ Daran hat sich bis heute nicht viel geändert. Die eine Woche steht Gert um neun auf, dann hat er Spätschicht. Die nächste gegen vier, dann hat er „Früh". Zehn Minuten im Bad, dann nimmt er die Brotdose, immer vier Scheiben Mischbrot, die hat er abends geschmiert, und ist weg. Carola braucht länger, so bis um sieben, und vorher hat sie noch in den Kühlschrank gesehen und den Einkaufszettel aufs Diktiergerät gesprochen. Um 14 Uhr 30 ist Gert wieder da. Er geht einkaufen, macht Mittag. Er stellt’s in den Kühlschrank, gegessen wird abends. Carola kommt gegen fünf, ihr Tag beginnt. Kaffee trinken: „Und, gut gelaufen?“ Manchmal nicht. Besonders bei ihm. Zwar versteht sie „meistens nur 80 Prozent“, aber für ihn, sagt sie, ist das wichtig: „Dass er’s mal rausgeredet hat."

„Wa ey?" „Ja ey." „Hhhm."

Zum Kaffee Kekse. Bahlsen-Mini mit Schoko, manchmal die Mini-Zwiebacke von Brandt. Und Briefkastenwerbung ansehen. Gerade nach Falträdern. Oder Reisen. Eberswalde zum Beispiel, aber im Kofferraum, sagt Gert, sieht’s immer aus wie auf Weltreise. „Wir brauchen immer alle Sachen: Schraubenschlüssel-Sortiment, Klappspaten, Hammer, Pflaster, Camping-Kocher. . .“ Und die Eintrittskarten und Herbergsrechnungen heben sie auf. Für die Ordner.

Ja, wie sie das mit den Ordnern machen. Es sammeln ja viele die alten Eintrittskarten und Briefe und heben die Urlaubsfotos auf. Aber wie sieht das bei den meisten aus? Bei Carola und Gert: Karten und Fotos sauber auf Pappe, in Klarsichthülle und Ordner, 28 bis jetzt, versehen mit kleinen Geschichten und Gedichten. Dekoriert mit allem, was so herumlag in 30 Jahren, Konfettischnipsel und Muscheln, Schokotiere von „Zetti“ oder auch mal eine verrottete Salzstange. Man könnte sagen, über die Jahre sind zu der Grundausstattung ein paar gute Stücke hinzugekommen. Nicht nur Möbel, ein Fernseher, Küchengeräte, auch Eigenheiten, Macken, Schrullen. Die Welt von Carola und Gert ist vollständiger geworden. Größer nicht unbedingt.

Ein paar Dinge haben darin jedenfalls keinen Platz. Politik zum Beispiel. Politische Gespräche. Sie selbst würden ja nie auf die Idee kommen, aber wenn in der Kneipe mal einer anfängt, gibt Gert gar nicht erst Antwort. Das ist die beste Methode. Dann kommt da nichts mehr. „Was ich für den Staat mache“, sagt Gert, „ist, dass ich arbeiten gehe. Der kriegt von mir Steuern.“ Aber das war’s dann auch. „Nur einmal, ’73 in Chile, da haben wir im Betrieb spontan unsere Brigade umbenannt. In Salvador Allende, aber das war von uns aus, nicht von oben. Weil das eine Riesen-Sauerei war, ’73 in Chile."

Bloß keine Politik

Was sonst noch hängen geblieben ist? Nato-Doppelbeschluss, Papst-Besuch, Gorbatschow. Aber Themen bei ihm und Carola waren das nicht. „Da hat ja jeder seine Meinung, da kommt man schnell ins Streiten." Sie lesen auch keine Zeitungen. „Ich staune bloß“, sagt Carola, „dass aus den Zeitungen noch nicht das Blut raustropft“, und Gert erklärt: „11. September, Wahlen und so weiter: Man registriert es, man nimmt auch Anteil, man vergisst es wieder. Oder das schwere Ding in Erfurt jetzt. Wir lassen uns von außen nicht in unsere Familienwelt reinpfuschen. Das ist doch die Funktion von der Familie schon in der Urzeit gewesen, dass sie sich nach außen hin stark gemacht hat.“ Wie eine Hülle, die einen beschützt, die man verteidigt. Bei der es aber dennoch manchmal geschieht, dass sie nicht fest genug ist.

1990 ist Carola entlassen worden, vorher war sie beim DDR-Außenhandel Sachbearbeiterin. Erst drei Jahre später fand sie eine neue Stelle, seitdem pflegt sie Alte, Kranke. Bei einem Mobilen Dienst, auf Pauschalbasis. Gert sagt: „Die Wende war gravierend." 1990 ist auch das Jahr, in dem Carola aufgehört hat, Auto zu fahren. Sie sagt, sie habe damals einfach keinen Mut mehr gehabt. Es hatte sich etwas eingestellt, so ein ständiges, leises Rütteln. Das nicht mehr weggegangen ist.

„Mal angenommen, sie müssten die Wohnung verlassen."

„Was?"

„Angenommen, sie könnten die Miete nicht mehr bezahlen und müssten hier raus."

Gerts Augen werden weit, er denkt nach. „320 Euro warm, das kann man sich immer leisten, auch noch als Arbeitsloser.“

„Und wenn das Haus abgerissen wird?“ Kommt ja vor in Marzahn.

Carola sieht aus, als ob ihr gerade der Räumungsbefehl übergeben wurde. Gert sagt: „Also, also mit dem Gedanken habe ich mich bisher überhaupt noch nicht getragen."

Es gab aber noch mehr, was bedrohlich wurde, oder irgendwie nicht reinpasste bei Carola und Gert. Frau Jütte blättert im 78er-Ordner und bleibt an einem Gruppenfoto hängen. Gert und sie hatten mal ein Hobby, Orientierungsrallyes im Motorsportclub. Mit dem Skoda durch Berlin oder Prag, das war wie Monte Carlo in klein. Wenn sie damals verreisten, haben die Frauen meist für sich gesessen und gelacht, und die Männer auch, und manchmal gab’s noch Sprüche aus Spaß wie: „Wann schießte Deinen Alten endlich ab“ und so, aber das ist vorbei. Auch zum Camping fahren sie nur noch selten. Heute sind Carola und Gert meistens alleine unterwegs, mit ihrem Nissan Almera Tino. Auch sonst sind nicht mehr so viele Freunde da, Frau Jütte sagt: „Ein paar sind weggezogen, von einigen hat man sich getrennt.“ Im 2002er-Ordner jedenfalls gibt es schon fast keine Menschen mehr außer Carola und Gert. Und auch nur ein einziges Foto, das sie beide zeigt. In einer Jugendherberge am Stadtrand von Rostock, sie sitzen an einem Tisch und in der Mitte steht ihr Campingfernseher. Mit Selbstauslöser aufgenommen.

Das hört sich jetzt schrecklich an, und typisch irgendwie. Nach einem Preis, den man zahlen muss. Wofür eigentlich.

Carola sagt: „Auf uns können wir immer zurückgreifen." Gert: „Und dann ist das irgendwie ein gutes Gefühl, dass man das alles zusammen gemacht hat. Man war ja immer zusammen. Und wenn man was vergessen hat, kann man den anderen fragen. Dann kommt man ins Erzählen und erinnert sich wieder. Wie das so war in der und der Zeit, wie man so drauf war, was man zusammen gemacht hat. Was man gefühlt hat. Wenn man immer zusammen ist, dann lässt sich das nicht so leicht wegwischen."

Fast perfekt

Herr Jütte geht Stullen schmieren, es ist Abend geworden, und eigentlich könnte die Geschichte zu Ende sein. Frau Jütte raucht. Sie ist für Gert vielleicht sowas wie eine Zeugin, und Gert vielleicht das Gleiche für sie. Vielleicht gibt es schlimmere Arten zu leben, vielleicht sitzen Gert und Carola in einer Kapsel, die genauso schnell fliegt wie alles andere, aber sie sehen nur selten mal nach draußen, und dann auf die Pappeln vorm Haus, die Blöcke an der Allee, hinter die nun die Sonne sinkt. Es ist ruhig hier, auf dem Wohnzimmertisch stehen vier Plastikbecher, jeweils einer für Fernbedienung, Zigaretten, Feuerzeug, Kaugummis. So sieht’s überall aus bei ihnen: perfekt. Und endgültig, irgendwie.

Ein Thema steht noch auf dem Zettel. Ein .

„Was ist eigentlich mit Ilka, Frau Jütte?" Pause, Schweigen.

Irgendwann: „Ja." Später: „Flügge geworden. Sekretärin in einer Software-Bude. Einen Freundeskreis hat die. . . Aber Mann, die ist 27, und kein Interesse an Kindern, keine Zeit. Dabei würd’ ich das Kind mit in’n Urlaub nehmen, verwöhnen würd ich’s. Was ich ja früher nicht getan habe. Da mussten wir sparen, und wenn Ilka dann wegen Jeanskleid. . . Mann, die erreicht man ja gar nicht mehr, wir müssen ja schon per Briefpost. . ."

Carolas Blick ist traurig, verletzt. Sie sieht aus dem Fenster. Auf die Bäume, den Kindergarten vorm Haus, wo Ilka war. Es ist kalt geworden im Zimmer. Gert kommt vom Stullenschmieren zurück. Er setzt sich neben sie.

Sie schweigen.

Es sieht so aus, als ob 28 Jahre noch nicht die ganze Geschichte sind.

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