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Kultur: Leere Regale, gemischte Gefühle

Von Kerstin Decker Dass etwas nicht stimmte, hat sie gleich gemerkt. Zu wenig Bücher.

Von Kerstin Decker

Dass etwas nicht stimmte, hat sie gleich gemerkt. Zu wenig Bücher. In dem Laden sind ja viel zu wenig Bücher! Eigentlich mag Ulla Kilias genau das: Läden mit wenig Büchern. Vor denen mit den zu vielen Büchern hat sie Angst. Kiepert oder Dussmann oder Hugendubel. Weil man da vor lauter Büchern kein Buch mehr sieht. So weit Kilias das beurteilen kann. Denn eigentlich war sie doch noch nie in einem anderen Buchladen. Ihre Bücher hat sie immer nur in der „Kleistbuchhandlung“ gekauft, Schönhauser Allee. Seit fünfzehn Jahren.

Ihren fünfzigsten Geburtstag im Dezember wird die Kleistbuchhandlung nicht mehr erleben. Sie schließt schon jetzt. Seit Wochen weiß Ulla Kilias, die treueste Kundin, das und versteht es trotzdem nicht. Zwischen diesen Bücherregalen war sie doch zu Hause. Und das oberste Merkmal eines Zuhause ist, dass es nicht einfach verschwinden kann. Ein Zuhause geht auch nicht Pleite, sonst wäre es keins. Ulla Kilias ist jetzt obdachlos. Metaphysisch obdachlos. Und was soll Kilias jetzt tun? Sie sitzt an ihrem Küchentisch und weiß es nicht. Fernsehen? Aber sie hat doch keinen Fernseher. Andere brauchen keine Bücher, sie braucht keinen Fernseher, also können alle zufrieden sein. Aber eben diese weise eingerichtete Welt hat einen Riss bekommen.

Eine allerletzte Möglichkeit gibt es noch. Sie könnte einfach in eine andere Buchhandlung gehen. Zum Beispiel zu Kiepert, Kiepert ist doch gleich neben der Kleistbuchhandlung. Einmal hat Ulla Kilias das selbst gewählte Gebot „Du sollst keine andere Buchhandlung haben neben mir!“ doch schon gebrochen. Sie war bei Kiepert und hat sich etwas angeschaut, um es nachher in ihrem Buchladen zu bestellen.

Wer Bücher liebt, kauft sie überall, das ist normal, sagt die Noch-Besitzerin der Kleistbuchhandlung. Eine Frau legt stumm eine Rose vor sie auf den Ladentisch, dunkelrote Widerlegung des „normal“ und „überall". Der Laden ist voll, die Regale sind fast leer. Die Kunden der letzten Tage blättern in „Milka. Das Kochbuch“ oder im „Testknacker bei Führerscheinverlust". 35 Prozent Rabbatt auf alles. Hatte die treueste Kundin der Kleist-Buchhandlung nicht erklärt, dass sie vor allem herkam, weil sie hier fast nie von Kochbüchern und sonstigen Ratgebern belästigt wurde? Unser Blick fällt auf „Das neue große Adventsbuch. Backen. Basteln. Schmücken.“ Kiepert rechts nebenan ist nicht der einzige Grund, dass Sabine Jakob aufgibt. Oder „Wohlthat“ schräg gegenüber. Und da ist ihr neuer Vermieter. Neue Vermieter haben meist die Eigenart, zur Bekräftigung ihrer Neuheit auch eine neue Miete zu wollen. Aber denken Sie bloß nicht, ich gebe meinem Vermieter die Schuld! Wenn Jakob eins nicht mag, dann sind das diese Untergangsgeschichten mit Schuldigen. Warum nicht mal Untergangsgeschichten mit lauter Unschuldigen? Sabine Jakob ist eigentlich Optimistin. Sie war es schon 1990, als sie der Treuhand die Buchhandlung abkaufte, in der sie arbeitete. Nicht für eine Mark oder zwei, sondern für einen richtigen Preis. Als sie den Kredit aufnahm, wusste Jakob nicht, was eine Mehrwertsteuer ist. Aber ihr Mann sagte: Du mach das mal, ich helfe dir inzwischen im Haushalt und mit den Kindern. Das vergaß er dann zwar gleich wieder, aber gekauft war gekauft. Und es machte Spaß.

Eine Frau klopft von draußen an die Scheibe und hebt die Faust zur Bekräftigung des Energieerhaltungssatzes. Es geht keine Kraft verloren! Auch die von Sabine Jakob nicht. Die Frau mit der Faust hat eben ganz allein ein großes Bücherregal aus dem Laden weggetragen. Denn die Regale werden nun auch verkauft. Die fast noch neuen Regale. Die Neonschrift „Kleistbuchhandlung“ ist noch aus DDR, aber alles andere ist wirklich neu. Als 1998 klar war, dass Kiepert nebenan einzieht, beschloss Jakob, den DDR-Charme ihrer Buchhandlung endgültig zu beseitigen. Die dunklen Wände, die Kachelöfen, die Außenwandheizer, die alten Bücherregale. Wie man Kredite aufnimmt, das wusste sie schließlich schon. Da stehen sie, die fast schon leeren, nutzlosen Bücherregale. Noch nicht abbezahlt. Sabine Jakob hat den Blick eines Kapitäns, kurz bevor sein Schiff sinkt. Nur dass man beim Verschwinden von Schiffen meist die Ursache kennt.

Riff oder Eisberg. Jetzt, glaubt Sabine Jakob, ist die Zeit selbst der Eisberg. Kinder, die ohne Bücher groß werden. Erwachsene, die keine Zeit mehr haben zum Lesen. Der Euro, der viele nur das Lebensnotwendigste kaufen lässt - Bücher zählen nicht dazu. Und schließlich der 11. September. Sabine Jakobs Reiseliteratur war plötzlich wie festgeklebt an den Regalen.

Ein Verleger steht in der Tür. Christoph Links nimmt die Buchhändlerin in den Arm. Sie haben zusammen angefangen. Der Verleger der ersten Nachwendestunde und die Buchhändlerin der ersten Nachwendestunde. Links hatte einen eigenen Büchertisch in der Kleistbuchhandlung, hier waren seine Bücher Bestseller. Ob sie schon gehört habe, fragt Links, Kiepert gehe es ziemlich übel. Und Hugendubel habe Einstellungsstopp. Von den Verlagen ganz zu schweigen. Wie schlecht es den Verlagen erst geht! Christoph Links, von Beruf Optimist, hat beinahe ein Rilke-Gesicht: Wer spricht von siegen? Überstehen ist alles. Jetzt, sagt er, wird die Buchlandschaft aufgemischt. Die größte Krise seit vierzig Jahren.

Ein Hauch von desperadohafter Neue-Markt-Atmosphäre legt sich über die Kleist-Buchhandlung. Die letzten Kunden verlassen den Laden. Bertelsmann, ergänzt Links unverdrossen, bildet keine Buchhändler mehr aus. Bertelsmann sagt, man habe schon lange keine Buchhändler mehr ausgebildet, nur noch Einzelhandelskaufleute, das sei zeitgemäßer. Buchhändler - ein Beruf von vorgestern? Sabine Jakob ist noch so jung - und schon von vorgestern. Der Verleger und die Buchhändlerin beschließen, eine bücherlose Welt für grundsätzlich unbewohnbar zu halten.

Du sollst keinen anderen Buchladen haben neben mir! Ulla Kilias, die treueste Kundin der Kleistbuchhandlung ist fest entschlossen, sich an den selbst gewählten Grundsatz zu halten. Nein, sie wird keine Fremd-Buchhandlung betreten. Niemals! Jedenfalls nicht sofort. Andererseits: Einer muss doch Kiepert nebenan retten.

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