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Leipziger Buchmesse: Gestern war erst heute früh

Heute startet die Leipziger Buchmesse: Schwerpunktland Serbien schlingert zwischen Tradition und Identität, zwischen gesellschaftlicher Lähmung und Lebenswillen und politischer Isolation. Doch seine literarische Vitalität ist ungebrochen.

Von Gregor Dotzauer

Kein weltläufigeres Land als Serbien. Wirtschaftlich herrschen solide russische Verhältnisse, denn Miroslav Miskovic und seine Delta Holding diktieren die Lebensmittelpreise nach Oligarchenart. Die Medien gedeihen nach italienischem Gusto. Unterwürfig, wie sie durch Jahre autoritären Regierens geworden sind, entfesseln sie ihr wahres Temperament erst in den Spaßgewittern der abendlichen Fernsehunterhaltung oder patriotischen Delirien für die Sportvereine Roter Stern oder Partizan Belgrad. Der fehlende Meerzugang betrübt allenfalls jugoslawische Nostalgiker. Unsere Adria, trösten sich die Einheimischen, ist die Donau.

Als die vertrauenswürdigsten Nachbarn gelten die Chinesen, die in Belgrad bis 2014 für 170 Millionen Euro eine anderthalb Kilometer lange „Brücke der Freundschaft“ zwischen dem Bezirk Zemun und dem Vorort Borca bauen. Die Gemeinsamkeiten gehen so weit, dass die Chinesen die Unabhängigkeit des Kosovo ablehnen, während die Serben die Verleihung des Friedensnobelpreises an Liu Xiabo für boykottwürdig hielten.

Ein Land zwischen Tradition, Techno und Turbofolk

Kalifornische Ideale regieren im Silicon Valley, jener Belgrader Straße, die eigentlich Strahinjica Bana heißt und in deren Lokalen einschlägig nachgerüstete Balkanblüten mit ihren steroidgestärkten Begleitern verkehren. Unweit davon das Reichenviertel Beverly Hills, wo sich der aus London zurückgekehrte Kronprinz Alexander II. von Jugoslawien monarchistischen Träumen hingibt. Noch ein paar Schritte weiter schwingt im Kalemegdan-Park unterhalb der Zitadelle, eine von dem Kroaten Ivan Mestrovic in Stein gehauene französische Marianne das Schwert gegen alle Feinde dieses Kosmopolitismus. Liberté, égalité, fraternité! Und zwischen Techno und Turbofolk ist die ganze musikalische Welt zu Hause.

Kleine Schönheitsfehler aber sind unvermeidlich. Am Flughafen bekommt man keine einzige ausländische Zeitung. Zwei Drittel der Studenten waren noch nie im Ausland, würden sich aber am liebsten unverzüglich dorthin absetzen. „Serbien ist ein scheußliches Land“, schreibt der Schriftsteller Sreten Ugricic. „Glücklicherweise existiert es nicht. Serbien ist ein wunderschönes Land. Unglücklicherweise existiert es nicht.“ Treffender als in diesen leitmotivischen Sätzen seines Romans „An den unbekannten Diktator“ (Dittrich) kann man die paradoxe Vitalität des Alltags nicht fassen. Wo sonst schlägt das Pendel zwischen Lähmung und Lebenswillen, politischer Isolation und Aufbruch nach Europa heftiger aus. Und welche andere Metropole als Belgrad entwickelt daraus eine urbane Kraft, nach der sich ein vergleichsweise habsburgisch vor sich hindämmerndes Städtchen wie das kroatische Zagreb nur sehnen kann.

Der Direktor der Nationalbibliothek ist nicht weniger zerrissen als sein Land

Ugricic selbst, ein schmaler, kluger, immer leicht traurig wirkender Mann, ist nicht weniger zerrissen. Einerseits ist er, noch von Serbiens 2003 ermordetem Ministerpräsidenten Zoran Djindjic berufen, seit zehn Jahren Direktor der Nationalbibliothek – einer 1941 von den Nazis in Grund und Boden gebombten Institution, die für die demokratische Modernisierung des Landes eine entscheidende Rolle spielt (www.nb.rs). Andererseits ist der 1961 geborene Montenegriner fast so etwas wie ein Dissident in staatlichen Diensten. Seinen Roman wollte keine große Zeitung besprechen. Also zog er nachts durch Belgrad und plakatierte für sein Buch. „Kennen Sie einen einzigen Direktor einer Nationalbibliothek, der etwas Ähnliches tun müsste“, fragt er.

Er verabscheut die Zwickmühle, die Serbien elf Jahre nach dem Sturz von Präsident Slobodan Milosevic und fünf nach dessen Tod im Kriegsverbrechergefängnis von Den Haag noch immer zu behagen scheint: „Diese Ideologie versucht die öffentliche Meinung ständig nach Siegern und Opfern auszurichten und festzulegen, auf welcher Seite man sich gerade befindet. Wenn es mit der Siegerseite nicht klappt, wechselt man eben auf die Opferseite. Das Ergebnis ist dasselbe. Unfehlbarkeit und Überlegenheit suggerieren – darum geht es. In einer Gesellschaft wie der unseren muss man nur die Illusion schaffen, dass alles in Ordnung ist.“ Zusammen mit Serbiens Schuldkomplex und Serbiens wetterwendischem Präsidenten Boris Tadik eine schwer durchdringliche Mischung.

Der im letzten Jahr verstorbene Momo Kapor, bis in seine zusehends nationalistischen Ansichten hinein so etwas wie der serbische Ephraim Kishon, hat in seinen Kolumnen über die Mentalität seines Landes diesen Komplex einmal zu ironisieren versucht: „Wir waren für den Osten schuldig, weil wir dem Westen applaudierten, und für den Westen, weil wir für immer im Osten blieben. Wir sind schuld an allen Kriegen, die Ost und West begonnen haben: Wir sind schuldig, weil es uns irgendwie gelungen ist zu überleben und weil wir unfreiwillig Kronzeugen geworden sind, die sie an ihre Missetaten und Treuebrüche erinnern. Wir verfügen heute über die größte Sammlung von Schuld in der Geschichte der Menschheit, und wir sind sogar für unsere Leidensgenossen schuldig – die Juden, die schon vor uns das Privileg hatten, die Schuldigsten der Welt zu sein.“ Wer sich so stilisiert, will sich gar nicht ernsthaft Rechenschaft ablegen.

Auf jeden Momo Kapor kommt aber ein Todor Kuljic. In seinem Buch „Umkämpfte Vergangenheiten – Die Kultur der Erinnerung im postjugoslawischen Raum“ (Verbrecher) geht der Belgrader Soziologe mit solchen Selbstimmunisierungen ins Gericht, wobei die Weigerung, sich mit der jüngsten Vergangenheit auseinanderzusetzen, mindestens so stark ist wie die Sehnsucht, endlich Blut, Schweiß und Tränen vergessen und losleben zu dürfen. Es sind westliche Erwartungen, dass hier die Kunst eingreift, obwohl es genügend Autoren gibt, die sich als Korrektiv verstehen – im Wissen, dass die Narrative, aus denen historische Identitäten entstehen, oft mit den Fakten konkurrieren. Auch die Urszene des serbischen Nationalismus, die 1389 gegen die Osmanen verlorene Schlacht auf dem Amselfeld, ist weniger Teil einer verbürgten Geschichtsschreibung als einer dichterischen Überhöhung, wie sie von den Gesängen des Kosovo-Zyklus bis heute stattfindet.

Nicht einmal von der genuin literarischen Vielfalt weiß man hierzulande genug. Es gibt, in Gestalt von Danilo Kiš, Aleksandar Tišma oder David Albahari, Schriftsteller, die zum europäischen Kanon gehören – wie der katholische Bosnier und Nobelpreisträger Ivo Andrik, dessen Schlüsselwerk „Die Brücke über die Drina“ bei Zsolnay gerade neu übersetzt wurde. Doch das Bild bleibt unvollständig, solange einer der größten Erzähler des 20. Jahrhunderts, Borislav Pekic, unübersetzt bleibt und die Bedeutung von Miloš Crnjanski unerkannt. Das ändert hoffentlich Serbiens Gastauftritt bei der Leipziger Buchmesse, aus dessen Anlass, nach Crnjanskis Gedichtband „Ithaka“ (Leipziger Literaturverlag), dort nun auch seine Berliner Notizen von 1929, „Iris Berlina“, sowie seine Autobiografie „Ithaka und Kommentar“ (Suhrkamp) erscheinen – mit lakonischen Erinnerungen an die Gemengelage rund um den Ersten Weltkrieg, den Übergang von der Donaumonarchie zum Königreich Jugoslawien.

Das war der Anfang des Jahrhunderts. Sein Ende markiert ein Roman wie Vladimir Arsenijevics „Cloaca Maxima“ (Rowohlt Berlin), der dem Elend der Balkankriege 1994 mit den Mitteln einer grellen Postmoderne beizukommen versuchte. Man kann nicht behaupten, dass Arsenijevic dafür die ihm gebührende Aufmerksamkeit bekommen hätte. Doch das betrifft die Wahrnehmung serbischer Literatur insgesamt. Überlagert von den jeweils neuesten Nachrichten über Hooligans und Kriegsverbrecher, bricht wohl erst jetzt die Zeit an, zu sichten, was sich in den letzten Jahren angesammelt hat, von Svetislav Basaras metafiktionalen Clownerien bis zu den Gedichten von Ana Ristovic, vor allem sich auf die höchstens in Zeitschriften veröffentlichten Namen einzulassen. In diesem Frühjahr erscheinen über 30 serbische Titel zum ersten Mal auf Deutsch: Töne und Stimmen, die man am besten über die Website www.literatur.rs erschließt, darunter auch Herrlichkeiten wie Dragan Aleksics Kindheitsvignetten „Vorvorgestern“ (Matthes & Seitz) aus dem Grenzland zwischen der Vojvodina und Rumänien bietet – eine universelle Schule des poetischen Sehens.

Ein kulturell vitales Land mit vielen Literaturen

Serbien ist ein Land der vielen Literaturen – und nach wie vor der Regionen. Schon im nur eine Stunde, aber mehrere tausend Schlaglöcher von Belgrad entfernten Novi Sad, wo mit Matica Srpska Serbiens älteste Institution für Literatur, Kultur und Wissenschaft beheimatet ist, geht ein ruhigerer Atem, und durch Schriftsteller wie László Végel, Vladimir Kopicl oder Laslo Blaskovic ist eine eigene Szene entstanden. Wenn es Hauptströmungen gibt, sind sie typisch für viele Transformationsländer. Für Mladen Veskovic, Literaturkritiker der Tageszeitung „Blic“, zerfällt die Gegenwart in ein formal um keine postmoderne Volte verlegenes Fabulieren und ein hemmungslos alltägliches Erzählen, das sich in einer Kritik fortsetzt, die über keine ästhetischen Begriffe verfügt, sondern ganz aus dem Bauch heraus urteilt. Das eine hat mit der Flucht aus der Not zu tun – das andere ist die blanke Not. In beiden Fällen ist Schreiben ein Bedürfnis, das ökonomisch keine Früchte trägt. Es ist allenfalls ein Nebenberuf.

Aber auch ein Hauptberuf garantiert keinen Wohlstand. Das Durchschnittseinkommen beträgt 300 Euro. Da werden auch großzügige Menschen schnell kleinlich und Bücher zum Luxus. Nur drei bis fünf Prozent der siebeneinhalb Millionen Serben lesen regelmäßig, viel zu wenige für den bedeutendsten Verlag Laguna, für Clio oder Geopoetika und ihre anspruchsvollen internationalen Programme, deren Titel meist nicht über eine Auflage von tausend Exemplaren hinauskommen. Hohe Zölle verhindern ein Zusammenwachsen mit dem kroatischen Buchmarkt – und dann steht dem grenzüberschreitenden Lesen neben sprachlichen Details auch noch die kyrillische Schrift im Weg.

Doch halt, wie es in einem Dialoggedicht des 1977 geborenen Enes Halilovic aus Novi Pazar heißt. „Weißt du, was das für eine Straße ist?/ Links, wenn du abbiegst, auf dem Hoberberg, ist ein alter römischer Friedhof. / Und an seinem Fuß ein orthodoxer Friedhof / Wo unsere Nachbarn, Serben, ihre Toten begraben. Also / Kannst auch du dort begraben werden. // Hier auf der rechten der Berg Grkovina, /auf ihm ein altes griechisches Grab. // Und noch ein wenig weiter, ein muslimischer Friedhof / (Die Türken schon hatten ihn umzäunt) (...) Lass uns hier anhalten /Lass uns ein wenig schweigen / Lass uns dem Schicksal ein wenig zuhören. // Lass uns in Erfahrung bringen, wohin der Weg führt.“

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