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Jetzt werden wieder neue Seiten aufgeschlagen. Die Buchmesse in Leipzig bietet Fragen und Antworten zur Zeit.

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Leipziger Buchmesse: Was Literatur in postfaktischen Zeiten leistet

Die Literatur muss sich gerade die Frage gefallen lassen, wie sie auf Fiktion und Wirklichkeit zu reagieren hat. Da gibt es ganze und halbe Wahrheiten. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Gerrit Bartels

Alles Lüge – so heißt dieser Leipziger-Buchmessen-Tage tatsächlich ein neuer Roman. Er stammt aus der Feder des in Pop- und Feuilletonzirkeln bekannten Schriftstellers Joachim Lottmann und ist alles andere als ein Meisterwerk. Lottmann beschreibt darin die Gegenwart, vor allem seine eigene, zum Teil ganz lustige, zum Teil sehr verquere, und zwar immer so, dass man nie darauf käme, hier ein fiktives Abbild der Wirklichkeit präsentiert zu bekommen. Alles Lüge ist ein typischer Lottmann-Roman, so wie es von dem auch als Journalisten tätigen Schriftsteller einen Blog gibt, der „Auf der Borderline nachts um halb eins“ heißt. Und doch haben Lottmann und sein Verlag zumindest mit dem Titel mitten ins Schwarze, Dunkle der momentanen Trump-Wirklichkeit getroffen. In eine Wirklichkeit, in der vonseiten der neuen US-Regierung tatsächlich von „alternativen Fakten“ die Rede ist, in der aber auch ein rechter Kampfbegriff wie „Lügenpresse“ von vielen Menschen für bare Münze genommen wird. In eine Wirklichkeit also, deren Fiktionen stärker zu sein scheinen als jene der Literatur, die darauf bislang eigentlich eine Art Monopol besaß.

Es geht um eine eigene, universelle Wahrheit

Die Literatur ist unter schweren Druck geraten. Ihre Fiktionen stehen auf dem Prüfstand. Sie muss sich die Frage nach ihrer Aufgabe, ihrer Stellung im postfaktischen Zeitalter gefallen lassen, ob sie darauf zu reagieren hat und wie. Andererseits ist das Bedürfnis größer denn je, gerade mit Hilfe der Literatur zum Kern der Wirklichkeit vorzudringen, in dem nicht zuletzt ethische Entscheidungen und authentische, nicht manipulierte Gefühle eine gewichtige Rolle spielen. Kurzum: Es geht in der Literatur um eine Wahrheit ganz eigener Art, eine universelle Wahrheit. Wenn Martin Walser in seinem jüngsten Roman „Statt etwas oder Der letzte Rank“ den Erzähler sagen lässt, „zum Ruhm der Unwahrheit“ beitragen zu wollen, dass durch Lügen „so viel Wahrheit in die Welt“ kommen würde wie durch die Wahrheit selbst, dann spricht er damit nicht im Namen von Donald Trump, sondern dem der Literatur.

Literatur ist immer schon weiter als die Realität

Diese betrachtet es, wenn sie was auf sich hält und nicht nur dem Journalismus Konkurrenz machen will, nie als ihre vorderste Aufgabe, die Realität einzuholen. Sie ist immer schon weiter. Sie schafft sich eine ihr gemäße Wirklichkeit, wie, um zwei der berühmtesten Beispiele dafür zu nennen, in den Kafka-Romanen „Das Schloss“ oder „Der Prozess“. Daran kann dann die reale Gegenwart ihre Sinne schärfen, zu Erkenntnissen gelangen. Insofern ist in der Regel die Literatur die wertvollere, zielführendere, komplexere, die sich Zeit nimmt – und nicht jene, die sich ad hoc an der Realität abarbeitet, die womöglich schneller als die Gegenwart sein will, die gewissermaßen „gerade eben jetzt“ mit dem Roman zur Trump-Ära aufwartet.

Davon aber hat es schon so einige gegeben, nur fiel darin nicht der Name des US-Präsidenten, war dieser noch eine seltsame Figur aus der an Seltsamkeiten nicht armen amerikanischen Popkultur. Sich zu engagieren ist für Autoren und Autorinnen das eine, durchaus begrüßenswerte, gerade in der aktuell politisch so aufgeladenen Zeit. Das andere, weniger begrüßenswerte, ist engagierte, auf politische Entwicklungen reagierende oder partout auf sie einwirken wollende Literatur. Diese kommt nicht einmal zu einer halben Wahrheit.

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