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Leipziger Buchpreis: Die Fremden müssen draußen bleiben

Klaus-Michael Bogdal erhält für die Studie „Europa erfindet die Zigeuner“ den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung.

Als im Oktober des vergangenen Jahres in Berlin das Mahnmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma eingeweiht wurde, war das für Romani Rose, den Vorsitzenden des Zentralrats der Deutschen Sinti und Roma, nicht zuletzt ein Signal für die Zukunft. Er betrachtete das Denkmal als Verpflichtung für Europa, nicht nur der an den Sinti und Roma begangenen Verbrechen zu gedenken, sondern auch deren „aktuelle Diskriminierung und Ausgrenzung besonders in Osteuropa zu ächten und zurückzuweisen“.

Ein weiteres Signal geht nun von der Leipziger Buchmesse aus. Denn den mit 15 000 Euro dotierten Buchpreis zur Europäischen Verständigung, der traditionell zum Auftakt der Messe verliehen wird, erhält in diesem Jahr am 13. März der Bielefelder Literaturwissenschaftler Klaus-Michael Bogdal, und zwar für sein 2011 im Suhrkamp-Verlag erschienenes Buch „Europa erfindet die Zigeuner. Eine Geschichte von Faszination und Verachtung“. Bogdal, der 1948 in Gelsenkirchen geboren wurde, zeichnet darin das Bild der Romvölker in der europäischen Literatur und Kunst vom Spätmittelalter bis heute nach.

Er beginnt seine Studie mit einem Gemälde aus dem 15. Jahrhundert, der „Spiezer Chronik“, das das erstmalige Auftauchen einer Gruppe von Menschen mit Turbanen, bunten Kleidern und dunkler Hautfarbe vor den Toren Berns dokumentiert. Und er endet mit der Literatur nach dem Zweiten Weltkrieg von Wolf-Dietrich Schnurres „Jenö war mein Freund“ über Günter Grass’ „Blechtrommel“ bis zu Colum McCanns Roman „Zoli“ und den wenigen autobiografischen Büchern von Roma.

Der Titel von Bogdals fulminantem Buch weist mitten ins Zentrum der Problematik. Aufgrund fehlender schriftlicher Dokumente der Romvölker wird die „große Erzählung“ über sie von den europäischen Nationen selber geschrieben. Sie erfinden „die Fremden“, so Bogdal, und transportieren die Klischees, Fantasien und Gerüchte über die „Zigeuner“, die „Gipsies“ oder die „Gitanos“ durch die Jahrhunderte, und das in einer Mischung aus ausgrenzender Verachtung und bisweilen eben auch distanzierter Bewunderung (Flamenco, das freie ungebundene Leben etc.). Bis auf wenige Ausnahmen (Goethe, Tolstoi, Gogol oder Cervantes) widerfährt den Sinti und Roma dabei selbst in der Literatur nur wenig poetische Gerechtigkeit. Auch nicht nach dem Völkermord der Nazis: „Die Mehrzahl der Werke“, schreibt Bogdal, „folgt den ausgetretenen Pfaden der Zigeunerromantik“ und orientiert sich an den immergleichen Stereotypen und Vorurteilen. Bogdal bleibt in seiner Studie immer dicht an den schriftlichen Quellen, er erzählt keine Kultur- und Herkunftsgeschichte der Romvölker, und auch den aktuellen Antiziganismus streift er nur kurz. Trotzdem ist gerade dieser Antiziganismus die Folie, vor der „Europa erfindet die Zigeuner“ gelesen werden muss.

„Bogdals epochale Studie gewinnt eine bedrückende Aktualität und Brisanz“, schreibt die Jury des Verständigungspreises deshalb auch in ihrer Urteilsbegründung. „Die Fähigkeit zur Entzivilisierung ist den europäischen Gesellschaften nicht abhanden gekommen“, resümiert Klaus-Michael Bogdal am Ende seines Buches, gerade auch im Hinblick auf andere Menschengruppen, die das Europa von heute an seinen Grenzen abzuweisen versucht.

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