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Kultur: Lektion der Angst

Seit dem Ende des Kalten Kriegs gibt es keine Atomwaffentests mehr. Aber noch immer greifen Diktaturen nach der Bombe

Von Caroline Fetscher

Im Frühjahr 1951, sechs Jahre nach dem Abwurf der Hiroshima-Bombe am 6. August 1945, ermunterte der japanische Pädagoge Arata Osada Hunderte von Schulkindern der Stadt, ihre Erinnerungen an den Tag der Bombe zu beschreiben. Kinder wurden zu Chronisten der menschgemachten Hölle.

Kiyoko Tanaka ging im August 1945 in die dritte Klasse. Über ihre Flucht schrieb sie: „Auf dem Weg zum Hiji-Hügel sahen wir Menschen in Wasserbecken springen, weil sie ihre Verbrennungen nicht mehr aushielten. Andere saßen nur am Straßenrand und riefen: Gießen Sie Wasser über mich! Geben Sie mir Wasser! Am Abhang des Hiji stand ein riesengroßer Baum in Flammen, vom Gipfel aus blickten wir auf ein Meer aus Feuer. Überall lagen Leute mit Verbrennungen und Wunden, sie stöhnten, sie wälzten sich am Boden.“

Auch Masataka Asaeda besuchte im August 1945 die dritte Klasse der Grundschule. Seine blutüberströmte Schwester hatte der Junge in den zertrümmerten und strahlenverseuchten Straßen gefunden und kaum wiedererkannt. Sie starb am Tag nach dem Atomblitz, am 7. August 1945. Masataka Asaeda beendete seinen Aufsatz mit zwei Fragen: „Brauchen wir die fürchterliche Atombombe, um den Frieden zu verteidigen? Warum können Menschheit und technischer Fortschritt nicht miteinander Schritt halten?“

In den Fragen des Schülers schwingt Günther Anders’ Kernthese mit, „dass wir der Perfektion unserer Produkte nicht mehr gewachsen sind, dass wir mehr herstellen, als wir uns vorstellen und verantworten können, und dass wir glauben, das, was wir können, auch zu dürfen“. Auch in den USA fand diese Position viel Zuspruch, bis zu den Utopien der Peaceniks und Blumenkinder von Kalifornien.

John Hersey, Kriegskorrespondent von „Time“ und „Life“, ein in China aufgewachsener Missionarssohn, veröffentlichte damals einen Bericht, der auf Amerika wirkte wie das moralische Nachbeben der Bombe. Für den „New Yorker“ war Hersey im Mai 1946 nach Hiroshima gereist. Er interviewte sechs Überlebende, deren Geschichten er ins Land der Bombe zurücktrug. Am 31. August 1946 füllte das Magazin alle seine Seiten mit dem Hiroshima-Bericht und war binnen Stunden ausverkauft. Albert Einstein soll tausend Exemplare bestellt haben, offenbar für Studenten und seinen Freundeskreis. Im Editorial hatte der „New Yorker“ deutlich gemacht, die Redaktion wende sich zwar nicht gegen den Abwurf der Bombe, die den Zweiten Weltkrieg beendet hatte. Doch solle der Öffentlichkeit das Ausmaß des Leidens in Japan bewusst werden.

Indes formierte sich, während die Pragmatik der Kalten Krieger auf die Menschenrechtsbedenken anderer stieß, eine erste Allianz der Apokalyptiker, der sich, wie der Philosoph Günther Anders, auch der Urwalddoktor Albert Schweitzer anschließen sollte, flankiert ab 1958 von Massenprotesten in westlichen Metropolen. Zur Partitur der Kritiker gehörte ein dräuender, zivilisationsskeptischer, kulturpessimistischer Orgelton. Sie warnten vor der Rasanz des technischen Fortschritts, beschworen in der Atombombe ein Menetekel übler Machwerke wider die Natur und hielten der Menschheit vor Augen, wie suizidal und prometheisch sie mit dem Feuer spiele.

Atomare Szenarien erschienen als Indiz gegen die Aufklärung: Die ketzerische Macht der Technik führt zur Auslöschung. Bis hinein in die Pershing- und Nato-Nachrüstungs-Debatten der Achtzigerjahre wurden apokalyptische Endzeitdiskurse zum Kanon für Bürgerbewegungen und Umweltgruppen. In ihrer Emphase, ein Schisma Natur-versus-Kultur aufzustellen, entging ihnen freilich oft die politische Tragweite des Kalten Krieges und seiner beiden Blöcke, die einander mit „mutual assured destruction“ (MAD), also per „gegenseitiger garantierter Zerstörung“, in Schach hielten.

Es ging ja um weit mehr, und vor allem um andere Inhalte, als um Natur und Kultur und das biologische Überleben der menschlichen Spezies. So hatte das Ende des Zweiten Weltkrieges das Ende der faschistischen Ideologie markiert – die sich, eher noch als andere, auf „Natur“, „natürliche Hierarchien“, auf biologistische und rassistische Welterklärungsmodelle berief. Insofern fanden sich viele der Atomkritiker in ideologischen Sackgassen wieder.

Zum morgigen 60. Jahrestag der Bombe erklären die „Ärzte gegen den Atomkrieg“, ganz wie einst: „Die Sprengkraft der bis heute verbliebenen 30000 Atomwaffen würde ausreichen, das Leben auf dieser Welt mehrfach auszulöschen. Die USA planen neue Generationen von Atomwaffen, und immer mehr Staaten und nichtstaatliche Akteure greifen nach dieser Massenvernichtungswaffe.“ Auch der pensionierte Robert McNamara, Kennedys Berater während der Kuba-Krise, fürchtet heute neben dem Weiterbestehen der nuklearen Arsenale der Weltmächte vor allem die „dirty bomb“: von Terroristen aus Spaltmaterial selbstgebastelte Sprengköpfe.

Trotz alledem scheint die kollektive Apokalypse-Angst gebannt, verdrängt, vergessen zu sein. Zu Recht? Am 16. Juli 1945 zündeten die USA in der Wüste Neumexikos den „Trinity“, also „Dreifaltigkeit“, genannten ersten Atomtest. Bis 1998 veranstalteten die fünf Atomwaffenstaaten USA, UdSSR, Frankreich, Großbritannien und China über 2000 Atomwaffentests, alle anderthalb Wochen einen. Indien und Pakistan zogen nach. Doch 4500 strategische nukleare Sprengköpfe lagern noch immer in den USA, 3800 in Russland. Nordkorea erklärte sich unlängst zur Atommacht, Iran verfolgt unverhohlen nukleare Ambitionen. Gleichwohl – vom „Atomzeitalter“ ist nicht mehr die Rede.

Mehrere neue Epochen wurden seitdem ausgerufen. Demnach leben wir im „Zeitalter der Globalisierung“, in der neuen Unübersichtlichkeit, vor allem aber im „Zeitalter des Terrors“. Längst haben die Apokalyptiker von Nine-Eleven – und kaum einer nimmt finale Visionen von Hölle und Paradies ernster als dieser Typus von Selbstmordattentäter – der alten Atomangst den Rang abgelaufen. Den bedrohlichen Orgelton der Atomkriegs-Propheten löste eine Kakophonie von Sirenen und Alarmsignalen angesichts realer Bedrohungen ab. Aus dem Bald-ist-alles-aus wurde die akute und berechtigte Furcht vor Anschlägen, in Bus und Bahn auf dem Weg ins Büro, inszeniert als echte Mikro-Apokalypsen von den letzten irrationalen Makro-Apokalyptikern. Diese ahnen, dass ihre Stunde geschlagen hat.

Übersehen wir nicht, im Guten wie im Schlechten, dass der Charakter der aktuellen Kämpfe im Kern derselbe ist wie im 20. Jahrhundert. Mehr denn je geht es auch im 21. Jahrhundert um das Aussterben politischer Dinosaurier, um die letzten und heftigen Zuckungen autoritärer, totalitärer, ultranationalistischer, ethnischer, militaristischer Ideologien. Zu deren mentalem Arsenal gehört stets ein totales Telos, sei es ein rassisches, ein ethnisches, kommunistisches, religiöses oder nationales Endziel. Wir leben allerdings seit dem weitgehend friedlichen Zerfall des so genannten Ostblocks in der Epoche der weltweiten, kaum mehr zu bremsenden Demokratisierung. Heute geht es um den globalen Ruf nach Partizipation, von Bürgern, Bürgerinnen, Minderheiten. International gültige Rechtsnormen wie die Menschenrechte breiten sich aus, von der Ukraine bis nach Nigeria, von China bis Marokko. Bis zu diesem Ziel ist es ein langer, holpriger Weg.

Wo sich die Demokratie fest etabliert hat, bestimmen allein Verhandeln und Debatte die politische Agenda. Je zügiger sie sich verbreitet, desto irrelevanter werden die Waffenarsenale. Sie können sich ganz allmählich auflösen – worauf die Tatsache hinweist, dass es seit 1998 eben keine neuen Atomtests mehr gibt. Bis dahin garantierten die Tests die „frische“ Einsatzfähigkeit der Atomwaffen. Ungetestet können Atombomben im Grunde nicht mehr mit prognostischer „Sicherheit“ eingesetzt werden. Daraus erklärte sich das Ziel der Kampagnen für den Teststopp in den Achtziger- und Neunzigerjahren: Die Sprengköpfe sollten im Lauf der Zeit von allein verschrotten.

Entfällt das größenwahnsinnige Endziel der Nichtdemokraten, dann ist weder ein absolutes utopisches noch ein absolutes apokalyptisches Telos am Werk. Dann wird einfach nur immerzu weiterverhandelt. Demokratie bedeutet nichts als das: verhandeln. Und bisweilen ist sie langweilig. Das ist ein Glück.

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