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Rex Stout, 1975.

© Wikimedia Commons

Lektüre-Empfehlung für Zuhause: Flinkes Hirn, langsamer Magen

Schreibtischtäter: Der Detektiv Nero Wolfe, Held der Kriminalromane von Rex Stout, löst seine Fälle in freiwilliger Selbstisolation.

Lange bevor das Wort „Homeoffice“ existierte, war Nero Wolfe bereits ein Held der Selbstisolation. Der New Yorker Privatdetektiv, den der Schriftsteller Rex Stout 1934 erfunden hat, verlässt sein legendäres Brownstone, ein braunes Sandsteingebäude an der 35th Street West, so gut wie nie. Warum sollte er auch? Die Fälle kommen zu ihm, indem jemand an der Tür klingelt, und für die Laufarbeit ist sein Sekretär Archie Goodwin zuständig, der zugleich als Wolfes Dr. Watson (oder sollte man sagen: als sein Eckermann?) fungiert und ich-erzählend durch die 33 Kriminalromane führt, die bis 1975 erschienen.

Per Fahrstuhl zu den Orchideen

Warnend zeigt Wolfe allerdings auch, wohin es führen kann, wenn man sehr lange nicht mehr ausgeht. Der knapp 1,60 Meter große Mann wiegt 140 Kilo, die Sessel, in denen er thront, sind Spezialanfertigungen. Goodwin beschreibt ihn einmal, sicher übertreibend, als gebirgsähnlich. Die Mahlzeiten in der Qualität eines Sternerestaurants, die der Schweizer Leibkoch Fritz Brenner um 12.30 und 18.30 Uhr serviert, sind heilig und dürfen durch nichts gestört werden. Danach trinkt Wolfe Bier. Bewegung meidet er, ins Obergeschoss fährt er per Lift, um seiner zweiten Obsession nachzugehen, der Orchideenzucht. Ihn aber deshalb für einen Phlegmatiker zu halten, wäre gefährlich. Denn dieser Schreibtischtäter hat ein Hirn, das schneller denken kann als alle anderen. Zeit lassen darf sich nur sein Magen.

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Rex Stout war ein genauer Beobachter menschlicher Neurosen, eiskalt agieren bei ihm meist nur Verbrecher. Von der spielerisch ironischen Qualität seiner Werke kann man sich überzeugen, seitdem sie in neuen deutschen Übersetzungen herauskommen. Der gerade erschienene Band „Die Goldenen Spinnen“ (übersetzt von Werner Löcher-Lawrence, Klett- Cotta, 256 S., 16 €) gehört zu Wolfes spannendsten Fällen. Anfangs kommt es zum Eklat, weil Brenner dem Detektiv eines von dessen Leibgerichten serviert, gegrillte Stare – allerdings statt mit Salbei mit Safran. Wolfe, der nicht „konsultiert“ (eines seiner Lieblingswörter) worden war, ist erbost und lässt die Vögel entsorgen. Dann klingelt es an der Tür, ein kleiner Junge erscheint, der mit dem Waschen von Autoscheiben ein paar Dimes verdient. Er hat beobachtet, wie eine Fahrerin mit einem Revolver bedroht wurde. Sie trug Spinnenohrringe. Bald darauf ist erst der Junge, dann der Fahrer tot.

Gerichtsdrama im Arbeitszimmer

„Ich stelle Fragen – aber mir selbst und beantworte sie auch selbst.“ So beschreibt Wolfe seine Methode der Deduktion. Bei Youtube kann man eine Verfilmung des Stoffes aus der amerikanischen Fernsehserie „A Nero Wolfe Mystery“ von 2001 finden, mit Maury Chaykin als Detektiv und Timothy Hutton als dessen Sekretär. Der Krimi endet, wie oft bei Stout, als Courtroom-Drama. Wolfe versammelt alle Beteiligten in seinem Arbeitszimmer und hält Gericht. Hinterm Schreibtisch hängt ein Shakespeare-Porträt. Der Detektiv zelebriert einen pathetischen Auftritt. Deklamierend erinnert er an den Volkstribun aus „Titus Andronicus“.

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