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Irene Dunne und Cary Grant in „The Awful Truth“ von Leo McCarey, aus dem Jahr 1937.

© Arsenal-Kino

Leo McCarey-Retrospektive: Slapstick für Jesus

Der Mann, der Laurel und Hardy verkuppelte: Das Arsenal feiert Hollywood-Regisseur Leo McCarey mit einer Werkschau.

Der Kaufhausangestellte Sam Clayton, Hauptfigur in Leo McCareys Komödie „Good Sam“ (1948), kann es mit der Hilfsbereitschaft nicht auch mal gut sein lassen. Von einem grundaufrichtigen Mitgefühl für ausnahmslos jedes Gegenüber erfüllt, kommt er jeder Bitte nach, sei sie auch noch so unwichtig, dreist oder selbstsüchtig. Dem Hollywood-Regisseur lag viel an dieser von Cary Cooper anrührend komisch gespielten Samariterfigur, die Sinclair Lewis einen „kranken Typen“ nannte. Bei McCarey wird Sams grenzenloser Altruismus am Ende als ein Wert geschätzt, den eine Gesellschaft sich „leisten“ kann. Doch zunächst setzt er eine Kette von Unannehmlichkeiten und Problemen in Gang, die seine Familie fast das Dach über dem Kopf kostet.

Ähnlich wie in McCareys Stummfilm „Liberty“ (1929), in dem sich Laurel und Hardy auf einem schwindelerregend hohen Baugerüst wiederfinden – Ersterer mit einem quicklebendigen Krebs in der viel zu großen Hose des Partners –, führt hier eins zum anderen, wenn auch in slapstickfreier Tonlage. Nach dem Gottesdienst, wo Sam kurzerhand bei der Kollekte einspringt, leiht er den Nachbarn nicht nur sein Auto, sondern kümmert sich auch noch um die Reparatur ihres Wagens.

Ein Helfer mit Neurose

Während sein eigenes Auto zu Schrott gefahren wird, sorgt Sam dafür, dass die asthmakranke Frau des Mechanikers medizinisch versorgt wird, hilft einer garstigen Zuspätkommenden in den Bus und beherbergt neben seinem Schwager eine junge Frau mit Liebeskummer. Alles zum Leidwesen seiner Frau, die sich mit den Konsequenzen von Sams Barmherzigkeit herumzuschlagen hat: „Er liebt die Menschheit. Tiere, Vögel und Fische. Er kann nicht anders, er muss den Menschen helfen.“ McCareys tiefer, religiös grundierter Humanismus, der für sein Kino bestimmend ist, verbindet sich in „Good Sam“ mit einem Gespür für eine Komik, zu der Understatement und Verzögerung gehören.

Eine Auswahl von Leo McCareys Filmschaffen – seine letzten, von Antikommunismus motivierten Arbeiten sind nicht dabei – zeigt nun das Arsenal. Die Reihe ist in Kooperation mit dem Locarno Festival entstanden, das dem etwas in Vergessenheit geratenen Vertreter des klassischen Hollywood-Kinos eine umfassende Werkschau ausrichtete. Denn obwohl McCarey seinerzeit zu den wichtigsten Regisseuren zählte und mit „The Awful Truth“ (1937) eine der berühmtesten Screwball-Comedys und „Wiederverheiratungskomödien“ (Stanley Cavell) hinterließ, hat er nie den Rang eines Howard Hawks oder Frank Capra erlangt. Zu den Größen der Hollywood-Industrie, die in den fünfziger Jahren von der Zeitschrift „Cahiers du cinéma“ zu Autoren ernannt wurden, gehört er nicht.

Die Kunst der Slow-Burn-Komik

McCarey, der sich zunächst als Jurist, Boxer, Kupferminenbetreiber und Songschreiber versucht hatte, begann seine Filmlaufbahn als Assistent von Tod Browning. Für die Roach Studios, wo er zunächst als Gagschreiber tätig war, inszenierte er zahlreiche Kurzfilmkomödien. Vor allem in seinen Arbeiten mit dem Komiker-Duo Laurel und Hardy, das auf seine Initiative hin „gepaart“ wurde, gab er dem Genre innovative Impulse. Unter McCarey wurde das Tempo des Slapsticks entscheidend verlangsamt und neu rhythmisiert, etwa durch den „slow burn“, eine Technik, bei der der Witz durch verzögerte Reaktionszeiten gesteigert wird.

Nachdem McCarey in seinen Spielfilmen zunächst die Zusammenarbeit mit Komikern fortsetzte – etwa mit Eddie Cantor und den Marx Brothers –, drehte er ab Mitte der dreißiger Jahre persönlichere Arbeiten, denen eine feinstoffliche Mischung aus romantischen, dramatischen und komischen Elementen eigen ist. In „Love Affair“ (1939) gelingt McCarey das Kunststück, eine eher leichte Komödie fluide in ein Melodram mit einigem Gewicht zu überführen. 1957 entstand unter dem Titel „An Affair to Remember“ das weitaus bekanntere Remake.

Stil haben, auch ohne Stil

Auch in „The Bell’s of St. Mary“ (1945) gelingt es Leo McCarey, im Rahmen einer religiösen Erzählung komische Boxszenen mit einer Nonne und Katzenslapstick zu platzieren. Sein vielleicht schönster und gewiss traurigster Film ist das nahezu vergessene Drama „Make Way for Tomorrow“ (1937), das Yasujiro Ozu zu seinem Meisterwerk „Tokyo Story“ (1953) inspirierte.

McCarey Stil ist stets zurückhaltend, sodass ihm nachgesagt wurde, gar keinen zu haben. Tatsächlich ist seine Handschrift erst auf den zweiten Blick auszumachen. Musik spielt eine große Rolle, auffallend ist auch eine zum Episodenhaften neigende Struktur. Mitunter scheinen sich Szenen vollständig aus den Zwängen der Erzählökonomie zu lösen, um sich ganz ohne Eile frei zu entfalten. Möglich waren diese Qualitäten durch einen Improvisationsstil, wie man ihn im klassischen Hollywood-Kino sonst nicht findet. Der Filmkritiker Manny Farber hat diese Natürlichkeit beschrieben: „Sie gehen und essen auf eine Art, als wäre dies ihre einzige Bestimmung im Film.“

Arsenal, bis 30. Dezember

Esther Buss

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