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Bildet Banden! Daniela Brezing (rechts) trifft sich immer donnerstags mit anderen Literaturliebhabern. Hier diskutieren sie einen Roman, in dem es um Cricket geht.

© David von Becker

Lesekreise: In der Buchtanzgruppe

Rotwein, Chips- und der Roman des Monats: Immer mehr Berliner bilden Lesekreise, um sich über Literatur auszutauschen. Ein Abendtermin.

Mal kurz die Hände hoch: Wer hat das Buch gelesen? Die Arme schießen nach oben. Und wem hat es gefallen? Die Arme fallen wieder. Großes Gelächter. In der „Donnerstagsgruppe“ wird ein amerikanischer Gegenwartsroman besprochen. „Niederland“ von Joseph O’Neill ist 2008 erschienen und wurde von der Kritik bejubelt. Den Donnerstagslesern ist das aufs Fröhlichste egal: „Daniela hat das vorgeschlagen!“, ruft einer von ihnen, „warum bloß?“

Daniela Brezing hat den Lesekreis vor mehr als zehn Jahren mitgegründet. Seither trifft sich die Runde einmal im Monat bei einem Mitglied zu Hause, immer an einem Donnerstagabend. Die neun Freunde bringen ein paar Flaschen Rotwein mit und stellen Knabbereien auf den Couchtisch. Natürlich ist auch das Buch dabei, das beim Treffen zuvor vereinbart wurde. Ausgewählt wird nach Lust und Laune: Die Freunde haben schon Dostojewski und Kleist diskutiert, aber ebenso auch Martin Suters „Small World“.

Brezing, 40 Jahre alt, randlose Brille und herzhaftes Lachen, schwenkt ihren Wein und sagt, dass das Interesse an Lesekreisen zur Zeit geradezu explodiert. Die Online-Buchhändlerin muss das wissen, denn sie leitet mit viel Herzblut die Internetseite www.die-leselust.de, eine Art Anlaufstelle für Lesekreisgründer. In Berlin muss sie Interessenten häufig sagen, dass alle ihr bekannten Lesekreise bereits überfüllt sind. Sie ermuntert dann dazu, einfach einen eigenen Kreis zu eröffnen: „Das geht ganz einfach!“

Die Donnerstagsleser sind zwischen Mitte 30 und 50 Jahre alt, beruflich ist von der Vermessungsingenieurin über den Diplom-Übersetzer bis zum IT-Teamleiter alles dabei. Gefunden haben sie sich nach und nach über Mundpropaganda, einmal hat Daniela Brezing auch eine Anzeige in einem Stadtmagazin aufgegeben.

Heute ist also „Niederland“ dran. In dem großzügigen Wohnzimmer in Prenzlauer Berg sind sich anfangs alle einig: Das Buch funktioniert nicht, da ist was faul. „Cricket!“, ruft einer, „der Roman handelt ja immer nur von Cricket! Cricket ist langweilig!“ Überhaupt nicht langweilig sind die beschwingten Versuche der Gruppe, den Problemen des Romans auf die Schliche zu kommen.

Zwischen Weingläsern, Chips und einer liebevoll vorbereiteten Schale mit mundgerecht zugeschnittenen Möhrenstücken wird hier das große Ganze in den Blick genommen: Warum spielt der Roman eigentlich in New York? Das New York der Nullerjahre, was war das für ein Zeitgefühl? Weshalb ist der Held Investmentbanker? Wie erzählt man heutzutage von einem Investmentbanker? Würde man jetzt im Krisenjahr 2011 anders von ihm erzählen als noch vor dem Kollaps? Und was bedeutet das eigentlich, wenn ein US-Roman ausgerechnet Cricket und nicht das uramerikanische Baseball ins Zentrum rückt? Vielleicht ist die Idee mit dem Cricket ja doch nicht so langweilig?

Nicht alle Lesekreise sind thematisch so offen wie die Donnerstagsgruppe. Viele konzentrieren sich auf bestimmte Schwerpunkte: Krimi-Bestseller, politische Theorie oder Karl-May-Romane. Der Literaturvermittler und ehemalige Leiter des Kölner Literaturhauses, Thomas Böhm, der ab 2012 das Berliner Literaturfestival leiten wird, hat gerade im Berlin Verlag eine leidenschaftliche Anleitung zum Gründen von Lesekreisen veröffentlicht. In seinem „Lesekreis-Buch“ (144 S., 7,95 €) berichtet er etwa von einem britischen Lesekreis, der seit 24 Jahren James Joyces „Finnegans Wake“ diskutiert, Zeile für Zeile. Ob Joyce oder Rosamunde Pilcher, für Böhm ist jeder Lesekreis Teil einer einzigartigen Kulturform, bei der sich über alle sozialen und Altersgrenzen hinweg Menschen über Kultur austauschen. Böhm zufolge entsteht durch das monatliche Zusammensitzen ganz allmählich „ein eigener Kanon, eine Lebens-Lesekreis-Geschichte mit vielen Stimmen und Gedanken, wie ein großer Roman“.

Bei den Donnerstagslesern ist das tatsächlich so. Es wird gescherzt, durcheinandergeredet und gelacht. Diese soziale Komponente von Lesekreisen ist in England und den USA viel anerkannter als in Deutschland. In Amerika, wo es über eine halbe Million Lesekreise gibt, veranstalten Arbeitgeber Zirkel, damit die Mitarbeiter einmal im Monat miteinander ins Gespräch kommen – quer durch alle Hierarchien. So werden Orte geschaffen, an denen nicht jede Unterhaltung von Konkurrenzdruck begleitet ist.

Man darf sich also nicht von Chips und Rotweingemütlichkeit täuschen lassen: Die fröhlichen Donnerstagsleser arbeiten bei ihrem Treffen durchaus an einer kleinen Utopie des sozialen Miteinanders. Auch wenn man als Gast das Ganze auch locker sehen und sich einfach zusammen mit den neun Freunden schlapplachen kann, wenn sie die schlimmsten Stilblüten aus O’Neills Roman vorlesen: „Das Dampfschiff der Liebe muss mit den Kohlen der Erinnerung befeuert werden.“ Oder, noch besser: „Ich war auf Rachel als menschliche Taschenlampe angewiesen.“

Aber es wird nicht bösartig gelacht. Dem Autor würde gefallen, wie lebensnah hier mit seinem Buch umgegangen wird. Ganz persönlich wird etwa darüber gesprochen, wie der eigene Blick auf Amerika aussieht, private Reiseerinnerungen werden berichtet, jemand erzählt von einer anderen gemeinsamen Buchlektüre. Von derart idealen Lesern träumt der Buchhandel geradezu. In den USA hat sich die Verlagskultur darum schon längst umfangreich auf Lesekreise spezialisiert: Buchhändler bieten Räume für die Diskussionen an, Verlage bereiten Empfehlungslisten mit Buchtiteln vor. Und die berühmte Sendung „Oprah’s Book Club“ der TV-Moderatorin Oprah Winfrey war nicht nur einem Lesekreis nachempfunden, sondern stellte grundsätzlich Materialien zur weiteren Beschäftigung mit den Büchern bereit.

Auch in Deutschland geben Verlage seit Neuestem besondere Romanausgaben für Lesekreise heraus. Im Anhang finden sich dann etwa Interviews mit den Autoren, Werklisten und mögliche Fragestellungen für die Diskussion. In der taumelnden Buchbranche mit ihren fast 100 000 Veröffentlichungen pro Jahr kann so etwas vielleicht ein Unterscheidungsmerkmal sein. Vor allem ermutigt es zu einem Leben mit Büchern: Bildet Banden! Rudelbildung stützt den Buchmarkt!

Für die Donnerstagsleser freilich ist das längst Alltagspraxis. Ob Materialien im Anhang oder nicht, sie werden fröhlich weiterdiskutieren. Einzige Grundkonstante ist für sie der Donnerstagstermin: Die Chips sind längst aufgeknabbert, die Möhrenstücke stark dezimiert, als wegen Kalenderproblemen vorgeschlagen wird, das Treffen nächsten Monat an einem anderen Wochentag abzuhalten. Eindeutige Antwort, das Weinglas auf der „Niederland“-Ausgabe abstellend: „Nein, bitte nicht! Lasst uns wenigstens etwas Festes im Leben haben!“

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