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Kultur: Lesen im Kaffeesatz

Die Vorstudie zur US-Serie „The Wire“: David Simons epischer Polizeiroman „Homicide“

Baltimores Kriminalstatistik Ende der 80er Jahre: 36 Cops einer Eliteeinheit kümmern sich über das Jahr verteilt um insgesamt 240 Morde, von denen sich mehr als die Hälfte auf Drogenkriminalität zurückführen lässt. Ein einzelner Cop leitet in einem Jahr die Ermittlungen in neun bis zehn Todesfällen und steht fast genauso oft als zweiter Mann bereit. Wobei er seine Energien nicht nur auf das Ertragen von sozialem Elend verwendet, sondern auch auf das Bewahren der innerpolizeilichen Hierarchie, denn: „Sergeants beugen sich Lieutenants, die sich vor Majors in den Staub werfen, die vor Colonels auf die Knie gehen, die den Arsch des stellvertretenden Polizeichefs küssen.“ Ein Mordermittler überlebt, schreibt David Simon, indem er in der Befehlskette lesen lernt „wie eine Zigeunerin im Kaffeesatz“. Und indem er sich selbst mithilfe dieser „braunen Brühe aus dem Untersten der Kaffeemaschine“ durch den Tag bringt.

Über den Job eines subalternen Kriminalbeamten berichtet er: „Du sitzt hinter einem regierungseigenen Schreibtisch im fünften Stockwerk eines zehngeschossigen Gebäudes aus Stahl und Glas, einer Todesfalle mit schlechter Belüftung, nicht funktionierender Klimaanlage und so viel frei schwebenden Asbestteilchen, dass sich der Teufel damit seinen Blaumann isolieren könnte.“ Zum Einsatz gerufen, „erbettelst oder erschleichst du dir die Schlüssel zu einem der sechs Zivilfahrzeuge der Marke Chevrolet Cavalier, schnappst dir deinen Revolver, einen Notizblock, eine Taschenlampe und ein paar weißer Gummihandschuhe und fährst zur richtigen Adresse, wo aller Wahrscheinlichkeit nach ein Streifenpolizist vor einer noch warmen Leiche wacht.“

Das ist also der Job. Und er klingt nicht gerade nach einem Tatortidyll samt heiterer Currywurstigkeit. David Simon, bekannt als Erfinder der genialen HBO-Serie „The Wire“, hat seinem Fernsehepos aus den Jahren 2002 bis 2008 eine umfangreiche Vorstudie zugrunde gelegt. „Homicide – ein Jahr auf mörderischen Straßen“ heißt seine mit mehr als 800 Seiten epische Reportage. Sie lässt sich als Schlüsselwerk zu Simons späterem filmischen Schaffen lesen und ist gleichzeitig die Probe aufs Exempel: Funktioniert die komplex gebrochene Handlung von „The Wire“ eigentlich auch als Buch?

David Simon, der im Alter von 28 Jahren bereits unter dem Eindrucks des schleichenden Niedergangs des US-Zeitungsjournalismus seinen Job als Gerichtsreporter der „Baltimore Sun“ aufgab, verbrachte 1988 ein Jahr lang bei der Mordkommission – als teilnehmender Beobachter von höchsten polizeibehördlichen Gnaden. Dort lernte er nicht nur, mit den Detectives zu trinken, sondern auch, sie auf Schritt und Tritt durch ihren mörderischen Alltag zu begleiten.

„Weißer, eins siebzig, Glatze, schlecht gekleidet, wirkt verdutzt, riecht nach Bier, im Besitz eines zerfledderten Notizbuchs.“ So beschreibt Lieutenant MyLarney seinen einstigen „Praktikanten“ im Nachwort. Simon wird ihm wohl zustimmen, wenn er auf sein Werk zurückblickte, das sich seit Ende der 80er Jahre um den real existierenden Drogenkrieg der Barksdale-Bande entspann, das später in Simons Buch „The Corner“ zu einer Homestory der Opferfamilie ausgeweitet wurde und in „The Wire“ zu Übergröße reifte. Aus dem kleinen Kahlkopf Simon ist ein großer Kahlkopf geworden.

Worin genau besteht der Reiz dieser Reportage? Zunächst führt sie dem Leser vor Augen, wozu die Gattung auf der Höhe ihrer Kunst, zwischen Faktentreue und literarischer Anverwandlung, fähig ist. „Homicide“ ist ein Bericht über Mordfälle, Verhöre und Einsätze, aber auch über Hierarchieprobleme innerhalb der Polizeibehörde, über eigensinnige Cops, emotional verwahrloste Verbrecher und dumpfe Opfer. David Simon hält sich im Wesentlichen an Dialoge, die er selbst bezeugen kann. Seine Kunst besteht in ihrer dramatischen Anordnung.

Eingerahmt wird die Erzählung durch einen Mord, der selbst die gewalterprobten Detectives in Rage versetzt. Ein kleines Mädchen namens Latonya Wallace wird nur mit einem Regenmantel bedeckt tot auf der Straße aufgefunden. Das mutmaßliche Sexualverbrechen weckt nicht nur bei den Polizisten ungewöhnlich heftige Schutzinstinkte. Auch die Regeln der Straße stehen plötzlich auf dem Kopf. Dealer und Junkies machen gegenüber der Polizei bereitwillig ihre Aussagen: „Hoffentlich kriegt ihr das Schwein.“ Mit Kindsmord will man selbst in den Slums von West Baltimore nichts zu tun haben.

Für einen Augenblick scheint es, als gäbe es eine höhere moralische Übereinkunft, die diese an den Rändern brüchig gewordene Gesellschaft vor dem Zerfall bewahrt. Doch schon im nächsten Augenblick beschreibt Simon die Ernüchterung der Cops, die sich bei der Durchsuchung der angrenzenden Wohnblocks einstellt: Die Verachtung für die Bewohner beruht auf der Überzeugung, „dass manche Menschen zwar arm und einige auch kriminell sein mögen, dass es aber selbst im schlimmsten amerikanischen Slum Abgründe gibt, in die sich niemand wirklich fallen zu lassen braucht.“

Simon montiert Mordfälle mit den Porträts ihrer Ermittler und hebt an zu Exkursen über Schusswaffengesetze und moderne Verhörtechniken. Dann wieder demonstriert er literarische Einfühlung. Etwa, wenn er den in sich versunkenen Detective Worden beschreibt, wenn dieser gegen Männer der eigenen Einheit ermitteln muss: „Es sind die Schüsse in der Monroe Street, die ihn an einen der Schreibtische in der Ecke des Kaffeeraums getrieben haben, wo er nun hockt wie ein auf Grund gelaufenes Schlachtschiff, das auf die nächste Flut wartet – auch wenn sie vielleicht nie kommen wird.“

Zu Hochform aber läuft David Simon auf, wenn es um die Beschreibung der Polizeibehörde als Ort roher Machtausübung und praktizierten Demütigungsritualen geht. Aber „Homicide“ handelt eben auch von Männerfreundschaften und kollegialer Solidarität. Ob oder wie der Fall Latonya Wallace am Ende gelöst werden wird, bleibt offen. Und so ist dieser bemerkenswerte Tatsachenbericht, der manchmal an Truman Capotes „Kaltblütig“ erinnert, und in seiner Abgründigkeit noch viel mehr an Roberto Bolaños Frauenmordkapitel aus „2666“, bis zuletzt spannend. „Ein guter Detective hält durch“, schreibt David Simon. Hierin unterscheidet er sich kaum von einem guten Leser. Katharina Teutsch

David Simon: Homicide – ein Jahr auf mörderischen Straßen.

Roman. Kunstmann Verlag, München 2011. 800 Seiten, 24,90 €

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