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Rudolf von Thadden:Trieglaff. Eine pommersche Lebenswelt zwischen Kirche und Politik 1807–1948.

Von Caroline Fetscher

Rudolf von Thadden:

Trieglaff. Eine pommersche Lebenswelt zwischen Kirche und Politik 1807–1948. Wallstein Verlag, Göttingen 2011. 296 S., 24,90 €.

So etwas kann schiefgehen und schon das Vorhaben wird Argwohn erregen. Nimmt sich ein deutscher Historiker des Jahrgangs 1932 der Geschichte eines Provinzortes in Hinterpommern an, aus dem er und seine Familie vertrieben wurden, liegt die Vermutung nah, dass Revisionismus am Werk ist, dass Ostgebietsnostalgie beschworen wird. Nicht ein Gran davon findet sich in Rudolf von Thaddens Studie über Trieglaff. Vielmehr belegt der Autor hier so akribisch wie aufklärerisch und trotz karger Quellenbasis die Verknüpfungen von Mikrohistorie mit Makrohistorie. Beispielhaft zeigt er, wie auch die oft noch tabuisierte Geschichte dieser Region erzählbar wird – und warum sie es sein sollte. Trieglaff ist der ehemalige deutsche Ortsname für das polnische Trzyglow, er bezeichnete ursprünglich eine slawisch-heidnische Figur, einen dreiköpfigen Götzen, den die bäuerlichen Anwohner in ihrem Aberglauben im 13. Jahrhundert vor christlichen Priestern versteckt haben sollen. An diesem Ort lebten von 1825 bis 1945 fünf Generationen der von Thaddens, als Mitgestalter wie Betroffene gewaltiger Veränderungen. Von Thadden gelingt zum einen die Politisierung einer Familiengeschichte, zu der lokale Gutsherren, einflussreiche Kirchenreformer wie lutherische Pietisten sowie Weggefährten Otto von Bismarcks ebenso gehörten, wie die in Plötzensee hingerichtete Reformpädagogin Elisabeth von Thadden. Deren Halbbruder wiederum, „verrannte sich“, schreibt der Autor, in nationalistische Doktrin und trat nach dem Zweiten Weltkrieg sogar aktiv für die Rechtsradikalen ein. Wieder ein anderer Verwandter, Rudolf von Thaddens Vater Reinhold, gründete 1949 den Deutschen Evangelischen Kirchentag. Doch zum anderen weist diese wissenschaftliche Erkundung weit über die Familie hinaus. Den Autor interessiert die Situation der Landarbeiter und Bauern, die Rolle der Entfeudalisierung für einen Ort wie Trieglaff in der historischen Dynamik Preußens, ihn beschäftigen die Briefe der Auswanderer, die ihre Erinnerungen und Fantasien von Trieglaff mit nach Amerika nahmen, und er begegnet den polnischen Neuansiedlern, die nach der Einnahme durch die Sowjetarmee an den Ort gelangt waren. In eben dem Schlossgebäude, wo Rudolf von Thadden bis zum 12. Lebensjahr seine Kindheit verbracht hatte, traf der Historiker mehr als ein halbes Jahrhundert später aufgeschlossene Polen, wie er ohne Ressentiments. Aufgeteilt in Wohneinheiten diente das Schloss inzwischen dem Direktor eines staatlichen, landwirtschaftlichen Betriebs als Wohnung. Dessen Tochter Magdalena, heute Anfang zwanzig, erinnert sich, wie sie als etwa Achtjährige den sympathischen „Mann aus Deutschland“ zum ersten Mal sah. Umso schockierter war sie später, als sie im Geschichtsunterricht von den Untaten der Deutschen erfuhr. In Rudolf von Thaddens „Trieglaff“ kommen Fäden der Geschichtsschreibung von zwei Seiten, einer deutschen und einer polnischen, zusammen, die bisher nicht – oder doch nur dubios verwoben worden waren. Aus dem dreiköpfigen Trieglaff entsteht ein dreidimensionales Narrativ: sozialpolitisch, persönlich, historisch. Im Augenblick bereitet der Historiker eine polnische Ausgabe seiner Studie vor. „Das Interesse der Polen“, berichtet er erfreut, „ist riesengroß.“ Caroline Fetscher

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