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Kultur: Lesezimmer: Platanen

Endlich will ich mich zu Pisa äußern, Sie wissen schon, zu dieser Studie, die deutschen Sprößlingen kulturelle Zurückgebliebenheit attestiert und unseren Nachwuchs auf dem Bildungsranking irgendwo zwischen Brasilien und Rumänen platziert. Alle haben mittlerweile dazu etwas gesagt, Hans Zehetmair, Dietrich Schwanitz, der hohenhohische Volkshochschulverband, Jürgen Möllemann und Unischreck Edelgard Bulmahn - warum also sollte ich schweigen?

Endlich will ich mich zu Pisa äußern, Sie wissen schon, zu dieser Studie, die deutschen Sprößlingen kulturelle Zurückgebliebenheit attestiert und unseren Nachwuchs auf dem Bildungsranking irgendwo zwischen Brasilien und Rumänen platziert. Alle haben mittlerweile dazu etwas gesagt, Hans Zehetmair, Dietrich Schwanitz, der hohenhohische Volkshochschulverband, Jürgen Möllemann und Unischreck Edelgard Bulmahn - warum also sollte ich schweigen?

Ein Anlass fand sich neulich abends, als mich permanente Sloterdijk- und Paul-Wühr-Lektüre dazu brachte, durchs Fernsehprogramm zu zappen. Menschen wie ich, die nicht zur Pisa-Generation gehören, sehen Unterhaltungssendungen ja nie absichtlich. "Beim Zappen bin ich zufällig ...", das ist der Standardsatz in unseren Kreisen, so geriet ich in Jörg Pilawas Vorabendratespiel "Das Quiz", eines jener inflationären Formate, die das Leben zu einem Multiple-Choice-Problem machen. Dem netten Herrn Pilawa saß ein Paar gegenüber, Anfang dreißig, das offenkundig Schulen besucht hatte und nun seine Brötchen in jenen Branchen verdient, in denen smarte junge Menschen heute zu arbeiten pflegen. Welcher Baum das libanesische Staatswappen ziere, wurden die Probanden gefragt und durch die Alternativen "Zeder", "Zypresse", "Platane" und "Esche" verunsichert. Der Mann begann lautstark zu grübeln, er sagte dies und jenes ... und dann den fatalen Satz: "Platane, das Wort habe ich noch nie gehört".

Halten wir inne: Es ist keine Schande, wenn man nicht alle Flaggen dieser Welt nachmalen kann. Man muss auch nicht ganz genau wissen, dass - so der "Kosmos-Baumführer" - die Blätter der gewöhnlichen Platane wechselständig, variabel in der Form, 20 bis 23 cm lang und breit sind und ihre behaarten jungen Blätter bei Berührung Allergien auslösen können. Es ist schön, dergleichen parat zu haben, doch wer hier passen muss, verdient nicht automatisch Hohn und Spott. Aber: Das Wort, das bloße Wort "Platane", das sollte ein deutscher Großstadtmensch schon mal gehört haben, oder?

Natürlich kenne ich auch nicht alle Wörter und lerne täglich neue Schönheiten wie "Kick-off", "Ressourcenallokation", "Bildverlust" oder "Body Shaping" hinzu. Selbst prominente Zeitgenossen haben mit der Wortvielfalt ihre Probleme, wie Lothar Matthäus, der das ausgelaugte Team von Rapid Wien kürzlich mit dem tiefschürfenden Satz "Nur so kann ich die Mannschaft aus ihrer Ekstase holen" aufmunterte. Doch "Platane" nicht kennen? Wo sich jede bessere Kleinstadt mit einer "Platanenallee" schmückt und die Beliebtheit dieses abgasresistenten Baumes ständig zunimmt? Die Folgen solcher Unkenntnis sind unabsehbar. Der Zusammenhang der Welt bleibt für immer im Dunkeln, wenn sich schon simple botanische Allerweltsbegriffe nicht mehr erschließen. Es ist eine Selbstverständlichkeit, dass unsere Sprache nicht ausreicht, um übergroßes Leid oder Glück zu beschreiben; seit dem frühen 20. Jahrhundert wundert sich niemand mehr darüber, wenn selbst eloquente Dichter klagen, dass ihnen die Worte nicht mehr gehorchen und sie von Sprachkrisen heimgesucht werden. Daran haben wir uns gewöhnt, manchmal ist Schweigen bekanntlich Gold, ein nicht gesagtes Wort vorteilhafter als ein gesagtes. Doch wie wollen Pisa-Geschädigte im Leben zurechtkommen, wenn es am Grundwortschatz mangelt?

Ein Beispiel: Der türkische Lyriker Nâzim Hikmet lässt eines seiner Gedichte mit den Zeilen "Am Wasser stehen wir: / die Platane und ich" einsetzen. Stellen Sie sich unseren Pilawa-Kandidaten vor, der "Platane" für ein Huftier oder eine Häuptlingstochter hält... Ganz zu schweigen von jenen vielen antiken Zeugnissen, die den Schönheits- und Wonnebaum beschwören, von Cicero, der in "De Oratore" im Schatten einer Platane philosophieren lässt, von Händels Oper "Xerxes" und ihrer Platanenpreisung "Ombra ma fui" oder vom Platanensymbol in Goethes "Wahlverwandtschaften". Und was tut sich im Kopf des TV-Baumignoranten, wenn er hört, dass Zeus mit Europa etliche Kinder "unter einer Platane" zeugte?

Mein Fernsehabend endete in tiefen Reflexionen. Jörg Pilawa gab keine Auskunft darüber, welche Schulbildung sein Kandidat genossen hatte, ob dessen Lücken einer hessischen Gesamtschule oder einem oberbayerischen Eliteinternat anzulasten sind. Vielleicht hat er lediglich jenen Rat missachtet, den Gerald Durrell in seinem Korfu-Roman "Meine Familie und anderes Getier" gibt: "Schlafe nie unter einer Platane! Die Wurzel windet sich in dein Gehirn und raubt deinen Geist, bei Verstand legst du dich hin, wahnsinnig stehst du wieder auf." Und danach trittst du im Fernsehen auf.

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