zum Hauptinhalt
Chinas zweiter Kontinent. In Dschibuti weht die heimische Flagge und die vom Reich der Mitte.

© AFP

Liberalismus auf dem Rückzug: Warum sollen wir als Kopien sterben?

Schluss mit der Nachahmung des Westens: Ivan Krastev und Stephen Holmes über die Illusionen des Liberalismus.

Von Gregor Dotzauer

Ivan Krastev und Stephen Holmes, in Ihrem Buch „Das Licht, das erlosch“ untersuchen Sie, wie der weltweite Siegeszug des Liberalismus zum Stillstand gekommen ist, weil der Wunsch, die gesellschaftlichen Strukturen des Westens zu imitieren, sich fast zwangsläufig in einen antiwestlichen Affekt verwandeln musste. Was hat Sie auf diese ungewöhnliche Idee gebracht?

KRASTEV: Bis 1989 gab es zwei große universalistische Systeme, die gegensätzliche Visionen von der Gestaltung der Welt hatten. Im Kalten Krieg prallten sie aufeinander, und man fragte sich: Welches von diesen Kindern der europäischen Aufklärung ist das legitime und welches das illegitime? Doch dann brach das sowjetische System zusammen.

Es war nicht so, dass man glaubte, der Westen habe über den Ostblock triumphiert. Es war eher, als hätte die Geschichte den Sozialismus besiegt. Francis Fukuyama hat diese Situation mit seinem Wort vom Ende der Geschichte beschrieben. Viele liberale Demokratien, darunter auch die deutsche, gingen davon aus, dass ihnen der Rest der Welt über kurz oder lang nacheifern würde.

Hier kam für Sie der Begriff der Nachahmung ins Spiel.

HOLMES: Ja, in seiner ganzen Ambivalenz. Wir wollten weg vom falschen Begriff der Kolonisierung. Und da hat uns der Anthropologe René Girard wichtige Anregungen gegeben. Er hat nachgewiesen, dass Nachahmung auch Konflikte und Traumata erzeugt. Nachahmung wird meist als eine harmonische Beziehung verstanden:

Wenn ich so werden will wie du, dann entsteht eine friedliche Welt. Aber in einem ersten Schritt verliere ich in einem gewissen Maß meine bisherige Identität. Und in einem zweiten Schritt kann daraus folgen, dass ich dich schlagen und ersetzen will.

Sie argumentieren weitaus stärker mit psychologischen als mit historischen oder wirtschaftlichen Faktoren.

KRASTEV: Sie erklären den Aufstieg populistischer Parteien in unseren Augen am besten. Wenn wir an die Regierungen von Viktor Orbán oder Jaroslaw Kaczynski denken, müssen wir über unterschiedliche Generationen ihrer Anhänger sprechen – so, wie wir auch über Migranten in der zweiten und dritten Generation anders als über deren Eltern sprechen.

Die Älteren haben es als Erfolg betrachtet, sich unserem Lebensstil anzugleichen. Für deren Kinder aber wurde es zum Problem: Das zeigen auch Studien über politischen Radikalismus in der arabischen Welt: Auf der einen Seite sind die Kinder oft weitaus mehr verwestlicht als ihre Eltern, auf der anderen Seite isolieren sie sich. Selbst da, wo die Anpassung gelungen ist, kommen irgendwann Ressentiments ins Spiel.

HOLMES: Der englische Dichter Edward Young hat geschrieben: „Born originals. How comes it to pass that we die copies? – Wir werden als Originale geboren. Wie kommt es dann, dass wir als Kopien sterben?“ So ist es den Osteuropäern ergangen. Sie wollten die westlichen Werte übernehmen und sich in die postnationale europäische Ordnung integrieren. Zugleich haben wir erwartet, dass sie etwas Eigenes bleiben. Das hat eine Art Schizophrenie hervorgerufen.

Am frappierendsten erscheint mir Ihre Beobachtung, dass die Osteuropäer etwas bekamen, mit dem sie zum Zeitpunkt des Systemkollaps nicht gerechnet hatten.

KRASTEV: 1989 war Normalität ein Schlüsselwort. Und Normalität hieß für Polen, die Deutschen nachzuahmen. Und dann erlebten sie, wie der Western innerhalb dieses Diskurses etwas Abnormales wird: in seinen Auffassungen von sexueller Freiheit oder Multikulturalismus.

Mit China richten Sie den Blick auf eine Weltmacht, die sich zumindest rhetorisch noch viel mehr gegen westliche Werte abgrenzt, als es in Osteuropa der Fall ist.

KRASTEV: Umgekehrt geht China aber auch nicht mehr davon aus, dass andere Teile der Welt ihm nacheifern. Vielleicht ist das Chinas Überlegenheitskomplex. Im Rahmen der Globalisierung geht es Peking nicht um einen neuen Universalismus. Die Macht des Landes ist auf Infrastruktur gegründet, auf das Projekt der Neuen Seidenstraße.

Die Regierung geht Kooperationen mit vielen Ländern ein, ohne aber die dortigen Regierungen aus dem Amt drängen zu wollen. China will niemanden bekehren oder wie zu Maos Zeiten geklonte Regimes errichten.

Ist es nicht komisch, dass ausgerechnet die Globalisierung einen neuen Werteisolationismus nach sich zieht?

KRASTEV: Ja, aber es ist auch komisch, dass gerade der universalistischste Philosoph von allen, Immanuel Kant, seine Geburtsstadt Königsberg nie verlassen hat. Die universalen Werte des Menschen zu erkennen, heißt also offenbar, sich nicht von der Stelle zu bewegen.

Währenddessen schwenken die Demonstranten In Hongkong amerikanische Flaggen und bestätigen damit sämtliche Schuldzuweisungen aus Peking.

HOLMES: Ja, beide Seiten tun so, als würde Amerika noch für den alten Universalismus stehen. Es zeigt in welcher Blase die Hongkonger leben. Amerika sendet keine Truppen nach Hongkong. Diese Vorstellung ist ein Überbleibsel aus der Zeit des Kalten Krieges.

KRASTEV: Wir haben eine Metapher für den Unterschied zwischen den USA und China gefunden. Es ist der zwischen einem „melting pot“, dem berühmten Schmelztiegel, und einer Chinatown.

Ersteres ist für Sie die eine Vorstellung, derzufolge sich ethnische und religiöse Gruppen freiwillig vermengen und eine neue, postethnische Identität annehmen. Letzteres steht für eine wirtschaftliche Integration, die jedoch mit kultureller Zurückhaltung einhergeht. Das zeigt sich unter anderem in Afrika, das schon einmal als Chinas zweiter Kontinent bezeichnet wurde.

HOLMES: Die Chinesen haben aber kein Interesse daran, afrikanische Kinder auf ihre Schulen zu schicken und mit ihrer Sprache in Kontakt zu bringen. Und sie selbst knüpfen mit den Einheimischen auch keine engeren Kontakte.

Der Begriff des Liberalismus ist vage und umfasst ebenso vieldeutige Konzepte wie Demokratie, Aufklärung und Fortschritt.

HOLMES: Zwischen Franklin D. Roosevelt und Ronald Reagan gibt es zweifellos unzählige Varianten von Liberalismus. Und vom Beginn des 18. Jahrhunderts an hat es illiberale Kräfte gegeben. In der ganzen Bandbreite ging es aber nie darum, eine universale Ideologie zu entwickeln. Von außen betrachtet, ist auch der liberale Universalismus ein Partikularismus.

Wir leben in einer postliberalen Welt. Dennoch sind viele liberale Ideen, und wir teilen viele von ihnen, nicht obsolet. Ein Zeitalter ist vorüber, aber die Zukunft steht keineswegs fest.

Gilt Ihre Diagnose denn auch einschränkungslos für die Länder, die man dem globalen Süden zurechnet? Und verkörpert, wenn wir schon von China sprechen, Taiwan, das bis 1987 eine Militärdiktatur war, nicht doch die anhaltende Sehnsucht nach einer liberalen Gesellschaft?

KRASTEV: Wir sind von den Ereignissen rund um 1989 ausgegangen. Dann wurde natürlich die Dekolonisierung wichtiger als der Kalte Krieg. Wir wollten ein Buch über Russland, die USA und Osteuropa schreiben – für Leser in Westeuropa. Thomas Bagger, der Leiter des außenpolitischen Referats im Bundespräsidialamt, hat gesagt: 1989 war eine amerikanische Idee, aber eine deutsche Realität.

Sie fordern einen geläuterten Liberalismus, der seine Kraft im 21. Jahrhundert erst beweisen kann, wenn er sein selbstzerstörerisches Streben nach weltumspannender Hegemonie aufgegeben hat. Wie gehen Sie mit Kritikern des Liberalismus um, die lange vor 1989 die Stimme erhoben haben?

HOLMES: Manche von ihnen glauben, dass die Gemeinschaft und ihre Bindefähigkeit nicht gewährleistet sind. Dieses Argument gibt es auch in einer faschistischen Variante. Carl Schmitt behauptete, Liberalismus könne keine Führerfiguren hervorbringen oder Kriege gewinnen – wie lächerlich! Liberalismus ist eine ausgesprochen wirksame Art und Weise, Gesellschaft zu organisieren – auch wenn es eine Spielart liberalen Denkens gibt, die sagt, dass es gar nicht genug Ungleichheit geben kann. Das halte ich für gefährlich.

Der Konservative Benjamin Disraeli, einst Präsident im britischen Unterhaus, sagte: „The palace is not safe when the cottage is not happy. – Der Palast ist in Gefahr, wenn im Dorf Unglück herrscht.“ Wohlfahrtsprogramme und Umverteilung sind Maßnahmen des sozialen Zusammenhalts. Das ist eine liberale, keine kommunistische Idee.

Politische Psychologie, wie Sie sie betreiben, scheint ein Privileg der Linken zu sein. Warum ist die Rechte darin so schwach?

KRASTEV: Ein Phänomen besteht darin, dass sie selbst dann noch glaubt, in der Opposition zu sein, wenn sie an der Macht ist und die Medien kontrolliert. Sie fühlt sich als verfolgte Minderheit, selbst wenn sie in der Mehrheit ist. Außerdem gibt es rechts eine starke antiintellektuelle Neigung. Das gilt auch für Viktor Orbán, der 1987 seine Diplomarbeit über die Hegemonievorstellungen des alten marxistischen Philosophen Antonio Gramsci schrieb.

HOLMES: Natürlich hat auch die Rechte ihre psychologischen Methoden und ihr Ideenmarketing. Sie arbeitet zum Beispiel mit der Verfügbarkeitsheuristik…

… argumentativen Kurzschlüssen, die nach der Formel Pi mal Daumen aus dem Nächstliegenden Wahrscheinlichkeiten ableiten …

… oder schlichter Konfusion. Donald Trump hat keine hegemoniale Idee. Wenn er sagt, dass die Europäer mit den Russen zusammenarbeiten, sagt er das einfach so lange, bis man meint, dass es stimmt. Es kommt nur noch darauf, was den eigenen Interessen dient, die Wahrheit ist egal. Für Trump-Anhänger löst sich jede Erklärung von Sachverhalten in eine Erklärung der Zugehörigkeit auf. Bist du für mich oder gegen mich? Das ist ganz gegen die Ideen von Gramsci.

Die Überwachungsstrukturen im Netz, mit denen auf unterschiedliche Weise der bis ins letzte ausgeleuchtete Konsument in demokratischen Systemen wie der Bürger autokratischer Regimes leben muss, haben zusätzlich Herausforderungen an den Geist des Liberalismus geschaffen.

KRASTEV: Der Einzelne steht damit tatsächlich vor einer völlig neuen Situation. Bisher galt: Ich weiß am besten, was gut für mich ist. Und: Meine Erfahrung ist ebenso wichtig wie deine. Insofern ist das größte Problem für mich Big Data: Es gibt ein Wissen, das mich besser zu kennen glaubt, als ich mich selbst. In China betreibt die Überwachung der Staat und diskutiert sie mit niemandem. Er muss es auch nicht, weil die Chinesen mit dem Sozialkreditsystem zufrieden sind. Die Ein-Kind-Politik hat dazu geführt, dass eine ganze Generation mit Videospielen aufwuchs.

Der Staat stieg da gewissermaßen nur ein. Wir versuchen immer, die speziellen Verhältnisse vor Ort zu verstehen. Das gilt auch für Vladimir Putins aggressiven Isolationismus, der sich nur rhetorisch mit Hegemonialansprüchen verbindet. Wenn jeder in Russland von Wahlfälschungen spricht, fragen wir lieber: Wenn das jeder weiß, warum wird es trotzdem getan?

Das Gespräch führte Gregor Dotzauer. „Das Licht, das erlosch - Eine Abrechnung“ ist im Berliner Ullstein Verlag erschienen, hat 366 Seiten und kostet 26 €. Heute Dienstag, den 12.11., findet um 20 Uhr die Buchpremiere mit Ivan Krastev in der Volksbühne Berlin statt.

Ivan Krastev, 1965 in Bulgarien geboren, leitet am Wiener Institut für die Wissenschaft vom Menschen den Schwerpunkt „Zukunft der Demokratie“.

Stephen Holmes, 1948 in St. Louis geboren, ist Professor für Rechtswissenschaft an der New York University und Experte für die Geschichte des Liberalismus.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false