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Kultur: Licht hinter dem Meer

Die in Kanada lebende Vietnamesin Kim Thúy erzählt von ihrer Odyssee

Als Kim Thúy 1968 während der Têt-Offensive auf die Welt kam, machten sich in West-Deutschland mehr Leute Sorgen um Vietnam als um die DDR. Heute ist Vietnam Reiseziel für ein paar, die damals schon dabei gewesen sind, und nachgewachsene Alternative, die schon viel rumgekommen sind. Wissen die Jüngeren überhaupt noch, wer den Vietnamkrieg gewonnen hat? Und hatte ihn überhaupt jemand gewonnen? In diese Ahnungslosigkeit hinein kommt jetzt ein Buch von einer Frau, die von ihrem Leben erzählt, das bis in jene Kriegsjahre zurückreicht und von dem sie so berichtet, als sei das alles sehr lange her und doch gerade erst vorüber.

Geboren in großbürgerlichen Verhältnissen als Tochter eines hohen Funktionärs im prowestlichen Saigon, mit Villa, Dienstboten und vielen Geschwistern, änderte sich, als sie zehn Jahre alt war, mit dem Sieg der Kommunisten alles. Zunehmend unter Kuratel gestellt, wurden die Aussichten für ihre Familie immer düsterer. Schließlich gehörten auch sie zu den boat people, jenen also, die versuchten, übers Meer zu flüchten. Ihnen gelang es, Malaysia zu erreichen, wo sie in elenden Lagern überlebten, bis sie eine Einreisegenehmigung für Kanada erhielten, wo Kim Thúy heute noch mit ihrem Mann und zwei Söhnen lebt.

Dies ist ein Buch, das schwer und schattenreich hätte werden können, und es ist ein kleines Wunder zu sehen, wie es eben das nicht geworden ist. Als hätten die Kindheitsjahre und deren abruptes Ende sie gelehrt, ihr geprüftes Herz nicht zu sehr an Dinge (und Menschen) zu hängen, hat sie es sich zu eigen gemacht, die Welt, die Verwandten, die Männer, das Glück als etwas zu betrachten, das zwar mit allen Sinnen und wacher Aufmerksamkeit begrüßt wird, sich aber bald wieder verabschieden kann.

Mit Ausnahme ihrer Kinder, der Söhne Pascal und Henri. Sie geben ihr das Gefühl, gebraucht zu werden, zumal der eine Autist ist. Das eigene Leben, auch das der Eltern, ist, wie es geworden ist, das der Kinder aber ist noch nicht entschieden. Dahinter steckt Lebenserfahrung, und die möchte Kim Thúy weitergeben. Das tut sie gelegentlich etwas zu direkt, so wie sie, vor allem gegen Ende, manches wohl doch ein wenig mit dem Weichzeichner schildert. Nie aber drängt sie sich in den Vordergrund. Den überlässt sie den übrigen Mitgliedern ihrer weitverzweigten Familie, die sie jeweils mit wenigen Pinselstrichen charakterisiert.

Das Buch lässt sich als Familienroman lesen, wobei Thúy entgegenkommt, dass die ihre eine Romanfamilie einer Verwandtschaft ist, die der Geschichte von Enteignung, Vertreibung, Flucht und Neubeginn etliche bunte Lichter aufsetzt. So etwa der Onkel Zwei – in Südvietnam, lernen wir hier, nummerierte man die Geschwister, wobei man seltsamerweise mit der Zwei begann: Onkel Zwei also war der Älteste dieser Generation, und er war derjenige, der sich vom Leben nahm, was er wollte. Er hatte in Paris studiert, wusste, wer Proust war, spielte Tennis und spielte in der Politik mit, und er bezauberte die Frauen, indem er ihnen das Gefühl gab, dass sie einzigartig seien, und auch wenn es nur für Augenblicke war, hielt es oft ein Leben lang vor.

So machte er es auch mit seiner Tochter, Kims Cousine Sao Mai, die er im richtigen Moment mit einem Kuss und einem Lob vor den Augen aller zu einer Prinzessin machte, deren Selbstbewusstsein ihr daraufhin nicht nur über alle Wechselfälle des Lebens hinweghalf, sondern ihr auch einen Glanz gab, den Kim, die sich selbst immer nur als den „Schatten“ ihrer Cousine sah, nie hatte. Dass sich aus ihrer vermeintlichen Unscheinbarkeit kein Minderwertigkeitsgefühl ergab, sondern, wenn nötig, Disziplin und der Wille, sich nicht unterkriegen zu lassen, das macht die Lebensenergie dieser Frau so spürbar.

Von all dem erzählt sie in über 100 kurzen bis sehr kurzen Kapiteln, die sie wie Dominosteine hintereinanderreiht, wobei das nächste immer mit einem Motiv einsetzt, mit dem das vorangegangene geendet hatte. So lässt sie im Hin und Her zwischen den einzelnen Stationen ihres bewegten Lebens Momente und Bilder, Schmerzpunkte und Lichtblicke einer Biografie aufleuchten, in die man sich gern hineinziehen lässt.

Kim Thúy: Der Klang der Fremde.

Roman. Aus dem Französischen von Andrea Alvermann und Brigitte Große. 160 Seiten, 14,90 €.

Jochen Jung

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