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Kultur: Licht und Linie

Thüringen feiert den Designer Henry van de Velde. Allein die Jubiläumsschau in Weimar versammelt über 600 Exponate.

Dieses Haus ist schwer zu verstehen. Vorläufer gibt es nicht, Nachfolger erst recht nicht. Selbst im Werk seines Schöpfers bleibt der Bau singulär: Wo ist der Haupteingang? Was soll hier die Schauseite sein? Wie eine Haube überfängt ein dunkles Schindeldach das Gebäude, die Wände springen vor und zurück, die Fensterverteilung wirkt unkoordiniert. Henry van de Velde (1863–1957) scherte sich wenig um das äußere Erscheinungsbild, die Fassade war für ihn sekundär.

Wer aber das Haus Hohe Pappeln betritt, weiß sofort, worin die Philosophie seines 1908 vor den Toren von Weimar erbauten Domizils besteht. Es entwickelt sich von innen heraus, wie ein Schneckenhaus. Die helle Diele ist der zentrale Ort, um die sich der Treppenlauf ins Obergeschoss und alle weiteren Räume winden. Von hier aus befindet sich alles an seinem Platz – licht und klar.

Sieben Jahre nach seiner Berufung zum künstlerischen Berater des jungen Großherzogs Wilhelm Ernst von Sachsen-Weimar-Eisenach schuf van de Velde dieses Eigenheim für sich und seine siebenköpfige Familie. Seine beste Zeit in Weimar war da beinahe schon vorbei. Sein Förderer Harry Graf Kessler hatte den belgisch-flämischen Architekten und Designer aus Berlin nach Thüringen geholt, aber die Moderne, die beide ins Städtchen an der Ilm lotsen wollten, begann bald zu stocken. Das Haus Hohe Pappeln kommt da einem steinernen Bekenntnis zum einmal angenommenen Auftrag in Weimar gleich: Hier baute van de Velde 1904/11 die Kunstschule und 1905/06 die neue Kunstgewerbeschule, deren Direktor er bis 1914 war. Die Stadt dankte es ihm kaum, suchte hinter seinem Rücken einen Nachfolger, denn zu Beginn des Ersten Weltkrieges musste er als Ausländer das Land verlassen. Das Haus Hohe Pappeln wurde 1917 verkauft, seine letzte Amtshandlung bestand darin, den jungen Walter Gropius als Direktor für die Kunstgewerbeschule vorzuschlagen. Ein Coup, wie man heute weiß: der Grundstein für das Bauhaus. „Wir werden viel an ihnen gut zu machen haben“, schrieb Gropius später an den väterlichen Freund.

Die Rehabilitierung van de Veldes ist Weimar bis heute ein Anliegen. Zu seinem 150. Geburtstag werden alle Kräfte aufgeboten, um den Totalkünstler in all seinen Facetten zu würdigen. So ist in ganz Thüringen ein Henry-van-de-Velde-Jahr ausgerufen worden, mit 14 Ausstellungen in Gera, Jena, Erfurt, Apolda. Den Auftakt bildet nun die Jubiläumsschau im Neuen Museum zu Weimar mit Leihgaben aus der ganzen Welt, von der selbst gestalteten Krawattennadel bis zum ergonomisch gerundeten Sekretär, von der gestickten Bordüre für das samtene Nachmittagskleid der Ehefrau Maria bis zum Sitzplatz im Friseursalon François Haby aus Berlin.

Schon mit den ersten Räumen wird klar: Der kleine Belgier mit den blitzenden Augen und dem imposanten Schnauzbart, der bis ins hohe Alter auch in Holland, Deutschland und der Schweiz tätig war, erlebte in Weimar seine schwierigste, aber ertragreichste Zeit. Ein Verdienst der Schau besteht darin, endlich auch die späteren Jahre zu würdigen, in denen er den belgischen Pavillon für die Pariser Weltausstellung in entwarf, die Bibliothek von Gent baute, die belgische Bahn neu ausstattete und das Kröller-Müller-Museum in Otterlo erweiterte. Und doch, an Weimar kommt all das nicht heran – auch wenn von 60 geplanten Gebäuden nur 26 entstanden. Aus heutiger Sicht ist kaum nachvollziehbar, wie ein einzelner Mann in so kurzer Zeit so viele Ideen entwickeln konnte. Das Konzept einer Kunstschule als „Zitadelle der Moderne“, wie er es später erneut mit „La Cambre“ in Brüssel verwirklichte, ging in Weimar perfekt auf. Und das in Thüringen angesiedelte Gewerbe konnte seine Entwürfe für Möbel, Geschirr, Tafelsilber adäquat realisieren.

Für einen Moment der Geschichte stimmten in Weimar Anspruch und Wirklichkeit überein. Das Großbürgertum folgte van de Velde auf seinem Pfad in eine neue Zeit und beauftragte den Visionär mit Häusern, ja ganzen Einrichtungen. Der Historismus hatte sich überlebt, das „Ornament aus Blüten, Ranken, Weibern“ (van de Velde) ausgedient. Mit ihm hielt ein Jugendstil der Linie Einzug, der an die Verbesserung des Menschen durch ein ästhetisiertes Umfeld glaubte. Schließlich hatte er als Neoimpressionist begonnen, die Malerei aber aufgegeben und sich dem Kunstgewerbe und der Architektur zugewandt, um die Lebenswelt zu verändern.

Es war der Traum eines Idealisten. Denn die silbernen Jardinieren für die große Tafel, Vitrinenschränke, Tintenfässer blieben für eine breite Kundschaft unbezahlbar. Heute mehr denn je. Für den weit ausschwingenden sechsarmigen Kerzenleuchter, der den Besucher im Treppenhaus des Museums begrüßt, bezahlte das Berliner Bröhan-Museum 1988 beim Kunsthandel der DDR über eine Million Mark. Die Leihgaben der Ausstellung sind spektakulär; nie zuvor wurden so viele Objekte van de Veldes zusammengetragen, über 600 Exponate. Darunter auch die für zehn Personen gedeckte Tafel mit 14-teiligem Besteck, von der Hummergabel bis zum Mokkalöffel.

Als Gesamtkunstwerker kümmerte sich van de Velde um alles, um das Haus, das Interieur, die richtigen Gemälde an der Wand, am besten van Gogh oder Seurat, so seine Empfehlung. Von seiner Gestaltungskraft sind häufig nur noch Spurenelemente geblieben, die es in seinem Weimarer Jubiläumsjahr jedoch neu zu entdecken gilt. Mit Führungen durch das Haus Hohe Pappeln, das seit 2012 der Klassik-Stiftung gehört und endlich vollständig saniert werden kann. Und mit dem ausnahmsweise für das Publikum geöffneten Nietzsche-Archiv, das die Schwester des Philosophen von dem Architekten komplett neu einrichten ließ.

Das Palais Dürckheim, in dem heute das Kolleg für Kulturtechnikforschung und Medienphilosophie residiert, oder die Villa Henneberg mit ihrem Waldorf-Kindergarten sind nur von außen zu besichtigen – Trutzburgen am Straßenrand. Umso offener gibt sich die Bauhaus-Universität mit Kunstschule und Kunstgewerbeschule, heute Unesco-Welterbe. Hier ging van de Velde ein und aus, sein Geist steckt noch immer im Detail, in den Türklinken und Hebefenstern oder auch in jenem Handlauf im hinteren Treppenhaus. Glatt wie ein Handschmeichler fühlt sich das Geländer an, mit je eigener Kerbe für den Daumen und die umgreifenden Finger.

Neues Museum Weimar, bis 23. 6. Katalog 39,90 €. Weitere Informationen unter: www.vandevelde2013.de

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