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Kultur: Liebe bei Windstärke acht

Aus dem Theater des Begehrens: A. L. Kennedy und ihr mitreißender Roman „Das blaue Buch“.

Dieses Buch will den Leser ganz, es will seine Seele, seine Haut, sein Fleisch, es will sein Herz und seinen Geist, und es spricht ihn an, als wäre es eigens für ihn gemacht: „Und du bist ein Leser – eindeutig – hier bist du und liest ein Buch, und dafür wurde es auch geschaffen. Es mag, wenn du es anschaust, dann erwacht es, dann hört es zu und spricht.“ Was A. L. Kennedy, die großartige schottische Schriftstellerin, in ihrem neuen Roman mit dem Leser anstellt, ist literarische Hypnotisierkunst vom Feinsten. Die üblichen Leseransprachen, seien sie umwerbend wie bei Jean Paul oder Laurence Sterne oder drohend wie bei Lautréamont, können einpacken gegen die Suggestionskraft dieses Buches. Es paktiert nicht mit dem Leser, es zieht ihn in eine Séance. „Das blaue Buch“ ist stark, radikal, zärtlich – und eindringlich bis zur Zudringlichkeit.

Liebe und Literatur sind in diesem Roman eins: diffizile Künste der Manipulation, die sich durch jahrelanges Training perfektionieren lassen, voller Finten und Tricks. Sie nehmen den anderen in die Zange, fühlen sich in ihn ein, stülpen sein Innerstes nach außen. „Jedes Wort kann Zauberkraft entfalten, wenn du es nur richtig anzuwenden weißt“, ist das Credo des Romans, der Magie und Handwerk verbindet. Unmissverständlich macht es dem Leser klar, dass er bei vollem Bewusstsein verzaubert wird.

Elizabeth Caroline Barber besteigt mit ihrem Freund, dem ziemlich harmlosen Derek, einen Ozeandampfer, um mitten im Januar des Jahres 2009 von Großbritannien nach New York zu reisen. Sie behauptet, die Schiffspassage wäre ihr von einer reichen Freundin geschenkt worden, die einer Krankheit wegen absagen musste. Er plant insgeheim, ihr auf hoher See einen Heiratsantrag zu machen.

Schon am Pier wird sie von einem „Fremden“ angesprochen, der sie in allerlei Zaubertricks mit Zahlen verwickelt, scheinbar nur zum Zeitvertreib. Man verrät nicht zu viel, wenn man preisgibt, dass A. L. Kennedy dem Leser falsche Informationen gibt, wo immer es der Sache dient. Erst als Arthur Lockwood, wie der „Fremde“ heißt, Elizabeth beim Essen etwas zuzischt, ahnt man, dass er ganz so fremd nicht sein kann: „Elizabeth, wirst du ihn heute Nacht ficken. Wirst du ihn ficken und ja sagen – wird er deine Stimme ja sagen hören – wird er in dir sein, wenn er deine Stimme hört“.

Arthur und Elizabeth kennen sich seit Jahren, genauer: seit 1989, dem Jahr des Mauerfalls, als die Welt davon träumte, die verfeindeten Hemisphären ließen sich schmerzlos vereinigen. Fünf Jahre waren sie ein Liebespaar, das zusammen einer seltsamen Arbeit nachging: Sie veranstalteten Séancen, bei denen sie das Publikum glauben machten, es könnte Kontakt mit geliebten Toten aufnehmen. Elizabeth wurde die Sache irgendwann zu gefährlich. Sie fürchtete die Entdeckung, sie hasste den Betrug, und sie hielt auch die Nähe zu Arthur nicht mehr aus.

Wenn der Roman uns später von ihrer ersten Begegnung erzählt, erfahren wir in einer jener kursiv gesetzten Passagen, in denen er in das Bewusstsein seiner beiden Hauptfiguren abtaucht, was Elizabeth über die Liebe zu Arthur denkt: „Sie werden von da an und für immer nicht gut füreinander sein.“

Nach der Trennung haben sie sich weiter getroffen, in irgendwelchen Hotelzimmern, in denen sich Elizabeth einreden konnte, es ginge nur um Sex. Und so scheint auch die Schiffsreise gedacht gewesen zu sein. Obwohl sich Elizabeth wundert, wie sie sich überhaupt auf Arthurs Vorschlag einlassen konnte, ist sie mindestens ebenso erbost wie er, dass sich Derek plötzlich zur Mitreise entschloss. Zwar schafft die Autorin den lästigen Langweiler rasch aus dem Weg, sie legt ihn einfach seekrank in die Kabine, wo ihn Elizabeth widerwillig und sporadisch pflegt, aber sie macht es den beiden trotzdem nicht leicht. Denn Worte können nicht nur Zauberkraft entfalten, sie können auch verletzen.

Da Elizabeth alles daransetzt, ihre Liebe zu verbergen, verschwindet auch Arthur zunächst von der Bildfläche. Er weiß, wie man eine Frau herumkriegt: indem man sie warten lässt, nachdem man sie mit kleinen Gesten gefügig gemacht hat (ein scheinbar absichtsloser Hauch in den Nacken, ein sanftes Berühren der Hand, ein Mantel, der sich schützend um sie legt, wenn sie in der Januarnacht vor Kälte zittert).

Mitten auf hoher See inszeniert A. L. Kennedy ein raues Theater des Begehrens. Und das kann niemand so wie sie. Da tigert Elizabeth, angefixt von ein paar Gesten und der Erinnerung an frühere Vertraulichkeiten, auf dem Schiff hin und her, immer auf der Suche nach Arthur, der nicht zu finden ist. Sie ist wütend und zornig auf ihn, denn er lässt sie zappeln, aber auch auf sich selbst, weil sie immer noch auf seine Tricks hereinfällt. Umgeben von alten Leuten und der ganzen trostlosen Atmosphäre des Schiffes – die Schlachten am Buffet, das Gedränge und Geschiebe, die heillose Vortäuschung vermeintlichen Amüsements –, bricht sie sogar in Tränen aus, als das einzige angenehme Paar sie liebevoll unter seine Fittiche nimmt. Francis und Bunny, er elegant und dienstfertig, sie immer noch schön, werden zur Verkörperung von Philemon und Baucis, dem glücklichen Paar, das ein Leben lang zusammenbleibt und sich auch im Tod nicht trennen will.

Wie A. L. Kennedy mit dem Begehren ihrer beiden Hauptfiguren spielt und den Leser in den Code ihrer Intimität verwickelt (man achte auf die obere Paginierung der Seiten), ist auf eine fast schmerzliche Weise aufregend. Denn dies ist nicht einfach nur ein Liebesroman, bei dem man gespannt ist, ob zwei sich kriegen. Es ist der Roman zweier Liebender, die ihre Kompliziertheiten so passgenau aufeinander abgestimmt haben, dass ein falsches Wort oder eine ungeschickte Geste genügen, um den anderen bis ins Mark zu verletzen. Bei ihren früheren Auftritten haben sie einen Zahlencode verwendet, um auf offener Bühne, wo sie sich als Geschwister ausgaben, Liebesbotschaften auszutauschen. Mit diesem Code reizten sie sich auf, um später hinter verschlossenen Türen Erlösung zu finden. Das Verbot, ihre Vertrautheit zu zeigen, ist mit der Zeit „zur Notwendigkeit geworden, zum unfehlbaren Vorspiel, zum stärksten Kitzel“.

Doch der Roman kreist nicht nur um die Frage, wie man das Begehren anstachelt und am Leben erhält. Er widmet sich, wie alle Romane der 1965 geborenen Schottin, so verschlungen wie stets der Familie und dem Wunsch nach Zugehörigkeit. Am Anfang sehen wir Arthur, wie er als Knabe die Insel verlassen muss, die er liebt, weil seine alleinerziehende Mutter wieder einmal mit ihm umzieht. In zahlreichen Passagen, die in die Vergangenheit der beiden Hauptfiguren zurückblenden, erfahren wir von ihren Wunden und Verletzungen. Elizabeth, die behütet aufwuchs und ihren Vater, der als Zauberer auftrat, verehrte, wird durch seine Skepsis gegenüber Arthur in ihrer Liebe verunsichert. Er vertrat die Ansicht, ein Zauberer müsse stets zugeben, dass er täuscht. Während Arthur behauptet, Zauberei sei nur dann nicht verwerflich, wenn sie perfekt, also undurchschaubar ist.

Die härtesten und zugleich liebevollsten Passagen des Romans erzählen von seiner Arbeit als Medium, die er mittlerweile nicht mehr öffentlich ausübt. Er stellt sich Frauen, die ihre Männer oder Söhne verloren haben, zur Verfügung, um sie noch einmal das Glück der Liebe erfahren zu lassen und sie mit dem Tod ihrer Angehörigen zu versöhnen. Von einer reichen Amerikanerin lässt er sich dafür bezahlen, nicht aber von einer Frau aus Ruanda, deren Mann und Sohn im Bürgerkrieg niedergemetzelt wurden.

Der Tod als die schlimmste Herausforderung der Liebe durchzieht diesen vielstimmigen Roman als dunkler Bass. Wenn Arthur und Elizabeth schließlich in New York als Paar das Schiff verlassen, sieht alles nach einem Happy End aus. Doch ein Geständnis öffnet den Schluss ins Unabsehbare. Elizabeth hat es für Arthur niedergeschrieben: in jenem blauen Buch, das wir lesen, dem verrücktesten, kompliziertesten und zauberhaftesten Liebesroman, der sich denken lässt.

A. L. Kennedy:

Das blaue Buch.

Roman. Aus dem

Englischen von

Ingo Herzke.

Hanser Verlag,

München 2012.

368 Seiten, 21,90 €.

Meike Feßmann

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