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Kultur: Liebe kann so weh tun

Hochfliegende Erwartungen, niederschmetternde Songs: der Eurovision Song Contest in Tel Aviv.

Das meistgebrauchte Wort dieser Nacht lautete: Dream. Der Eurovision Song Contest, der in Tel Aviv zelebriert wurde, stand unter dem Motto „Dare to Dream“. Traue dich zu träumen. 26 Länder hatten es ins Finale des Gesangswettbewerbs geschafft, 200 Millionen Fernsehzuschauer sahen zu. Die Stimmung war euphorisch, Moderator Erez Tal jubelte am Beginn der viereinhalbstündigen, immer wieder spektakulären, oft ziemlich zähen Show darüber, dass Menschen aus aller Welt in der Küstenstadt am Mittelmeer zusammengekommen seien, „um ihren Traum zu verwirklichen“. Alle träumen, das stimmt. Aber siegen kann beim ESC leider immer nur einer.

Später sagte Madonna, die während der Auszählpause in Lack- und Lederkluft sowie mit verwegener Piratenaugenklappe ihr demnächst erscheinendes Album „Madame X“ bewarb: „Ihr alle seid Sieger, egal, was passiert“. Nicht klar war, ob sie damit die Musiker, die gerade nervös auf ihre Ergebnisse warteten, die 7000 frenetischen Besucher im Tel Aviv Convention Center oder vielleicht sogar die gesamte Menschheit meinte.

„Be mysterious“, diesen Ratschlag gab Madonna auch noch, was ein wenig traurig war, weil ihrem eigenen Auftritt nicht bloß das Mysteriöse, sondern nahezu alles fehlte, was früher einmal ihre Kunst ausgemacht hatte: Glamour, Präzision und Originalität. Sie sang ihren dreißig Jahre alten Klassiker „Like A Prayer“, eingerahmt von Tänzern in Mönchskutten, hatte Mühe, die Showtreppe fehlerfrei herunterzusteigen, klang kurzatmig und verfehlte etliche Töne. „Future“, das anschließende Stück aus der neuen Platte, wirkte in seiner sanft schaukelnden Mischung aus Reggae, Hip Hop und Synthiepop eher gestrig. Immerhin verschwanden die Gesangsfehler im Autotune-Effekt, der Madonnas Stimme gummiartig verzerrte. Es war ein Desaster. Uncharmant auch, dass der Rapper Quavo (28), der die 60-jährige Großsängerin in einem Sternenkriegerkostüm begleitete, vorher im Interview preisgab, dass er ihre Musik kaum kenne. „Meine Mutter hat früher ihre Songs gehört.“

Gewonnen hat der Niederländer Duncan Laurence mit seiner Liebeskummerballade „Arcade“. Zusammengekauert an seinem E-Piano sang der 25-jährige Absolvent der Rock Academy von Tilburg mit flammendem Bariton von einer dysfunktionalen Beziehung, die von Anfang an ein Spiel gewesen sei, bei dem er nur verlieren konnte. „I don’t need your games, game over“, barmt er, die Bühne ist in tiefblaues Grottenlicht getaucht, zum „Oh-oh-oh-oh“ des Refrains schraubt er seine Stimme auf Falsetthöhe. Dieser Mann leidet, aber mit Stil. Sein Song, den er mit drei Coautoren geschrieben hat, schäumt mächtig auf und steigert sich zu großem Hymnenpathos, wie man es auch von Coldplay oder U2 kennt. Und natürlich hat er völlig Recht. Liebe kann verdammt weht tun.

Duncane Laurence war als Favorit gestartet und stemmte am Ende überglücklich den gläsernen Pokal in die Höhe. Es ist der erste Sieg für die Niederlande seit 44 Jahren. „Arcade“, das in seiner eingängigen Schlichtheit an die Zeiten erinnert, in denen der Sängerkrieg noch als Grand Prix Eurovision de la Chanson firmierte, überragte musikalisch den Abend. Ob daraus tatsächlich eine Karriere wird, ist fraglich, denn Weltstars wie Udo Jürgens, Abba oder Johnny Logan hat der Wettbewerb schon lange nicht mehr hervorgebracht. Heute gebiert der paneuropäische Popzirkus jedes Jahr eine neue Augenblickssensation, die in der nächsten oder übernächsten Saison bereits wieder vergessen sein wird.

Warum auch nicht? Das Event ist das Ziel, gemeinsames Feiern stärkt die Zusammengehörigkeit. Oder, wie Madonna, einen ihrer Hits zitierend, verkündete: „Music makes the people come together.“ Die ganze Halle sang mit. Auf den zweiten Platz schaffte es der italienische Sänger Mahmood mit „Soldi“, einem rhythmisch vertrackten Hochgeschwindigkeitsstück über Männlichkeitsbilder mit bemerkenswerter Mitklatschpassage. Weil er ägyptische Wurzeln hat, war der Sänger von Innenminister Salvini kritisiert worden.

Dahinter: der Russe Sergey Lazarev mit seinem Dröhnbass- und Kunstgeigenbeitrag „Scream“ sowie Luca Hänni mit dem beherzt loswummernden Eurodancetrack „She Got Me“. Das deutsche Duo S!sters war mit dem drittletzten Platz für seine lieblos zusammengeschraubte Powerballade „Sister“ noch gut bedient. „I’m sorry, sorry for the drama“, heißt es in der Kernzeile ihrer postfeministischen Hymne über eine schwierige Frauenfreundschaft. Zum wirklichen Drama fehlt den Sängerinnen Laurita Spinelli und Carlotta Truman das Können.

Richtig schlecht zu sein, ist schon wieder eine eigene Qualität, denn der ESC versackt in der Gleichförmigkeit. Nur sieben der 26 Finalteilnehmer – aus Italien, Island, Slowenien, Frankreich, Serbien, Albanien und Spanien – sangen in ihrer Nationalsprache, alle andere versuchten sich, oft mit mäßigen Erfolg, auf Englisch. Mitten in einem europäischen Wahlkampf, in dem wieder einmal die kulturelle Vielfalt des Kontinents beschworen wird, wirkt das mutlos. Überhaupt fehlte dem ESC diesmal der gewisse Irrsinn. Die beste Performance lieferte die isländische Band Hatari mit ihrer scheppernden Trashmetalfrechheit „Hatrið mun sigra“.

Im Backstagebereich hielten die Musiker sekundenkurz die palästinensische Flagge in die Kamera. Es war der einzige Moment, an dem etwas von der politischen Aufladung der Veranstaltung zu spüren war, über die vorher so intensiv diskutiert worden war.

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