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Kultur: Liebes Jesulein

Eine Schau in Rotterdam versammelt die Schätze der spätmittelalterlichen Malerei Hollands

Sein Lieblingsbild hat Max J. Friedländer, der bis 1933 amtierende Direktor des Bodemuseums, „Johannes den Täufer in der Wildnis“ genannt. Nur wenige Zentimeter misst das Werk und eröffnet doch eine ganze Welt, so wie der heilige Mann da mit aufgestütztem Kopf inmitten einer lieblich-grünen Landschaft sitzt und gedankenverloren die Füße aneinanderreibt. Das kleine Bild ist nun wieder der Star, seit es zum Gastspiel von der Berliner Gemäldegalerie ins Rotterdamer Boijmans van Beuningen-Museum entsandt worden ist und dort groß Werbung macht. Gemeinsam hängt es mit elf weiteren Bildern von Geertgen tot Sint Jans in einer Ausstellung, die sich bescheiden „Frühe Holländer“ nennt.

Nur der Experte ahnt, dass sich dahinter eine Sensation verbirgt. Denn nur wenige Werke haben den Bildersturm Mitte des 16. Jahrhunderts überlebt, meist konnten nur Kleinformate wie „Johannes der Täufer“ gerettet werden. Zurück blieben die weiß geschrubbten Kirchenwände, wie man sie noch heute von den reformatorischen Kirchen kennt. Plünderei, Krieg und Brände gaben den Rest, ein ganzer Bilderkosmos ging verloren. Gerade einmal neunzig Werke sind aus jener Zeit zwischen 1460 und 1520 noch bekannt, verteilt in alle Welt. Wenn das Boijmans van Beuningen-Museum nun zwei Drittel dieses raren Bestands zusammenbringt – zwölf aus der eigenen Sammlung, zwanzig hat das Rijksmusum Amsterdam wegen Umbau in Rotterdam untergestellt, die restlichen kommen aus dem Louvre, den Uffizien, dem Prado –, dann ist das spektakulär, denn die fragilen Malereien auf Holz werden kaum noch auf Reisen geschickt. Die einmalige Zusammenschau – fünfzig Jahre nach dem letzten Ausstellungsprojekt in Amsterdam, von dem man noch heute schwärmt – überzeugte jedoch die internationalen Leihgeber.

Eine Ausstellung lang fügt sich also ein Bilderreigen zusammen, der vor einem halben Jahrtausend auseinandergerissen worden war. Sortiert sind die Werke nach Städten, nach Haarlem, Amsterdam, Leiden, Delft, Gouda und Dordrecht, aus deren Kirchen sie vermutlich stammen. Die Ikonoklasten haben reinen Tisch gemacht: In keinem holländischen Gotteshaus des 15. Jahrhunderts hängt heute noch ein Bild an seinem originalen Platz.

Gewissheit gibt es also keine; nicht einmal die Namen der spätmittelalterlichen Meister sind bekannt. Selbst der große Chronist Karel van Mander hat in seinem 100 Jahre später erschienenen „Schilderboeck“ nur noch Geertgen tot Sint Jans und Albert van Ouwater namentlich erwähnt. Damals signierten die Künstler noch nicht. Zwei Drittel der Zuschreibungen geht auch heute noch auf Friedländers Forschungen zurück, der in seinem mehrbändigen Opus Magnum die Künstler jeweils mit ihrem charakteristischstem Werk verband. Für Nichtkenner mag es verwirrend sein, wenn der Meister des Braunschweiger Diptychons mit einem Einzelwerk aus dem Kölner Wallraf-Richartz-Museum vertreten ist. Doch auch mit den neuesten Möglichkeiten der Dendrochronologie und UV-Aufnahmen bleiben bis auf einige Umdatierungen die meisten Fragen ungeklärt.

Es bleiben das Sehvergnügen und die Begegnung mit einer zugleich nahen und doch fernen Lebenswirklichkeit. Denn darin unterscheidet sich die Malerei der Grafschaft Holland, die seit 1433 zum Königreich Burgund gehört, von den südlichen Niederlanden: Sie war sehr viel näher an der gelebten Alltagsrealität und zeigt das liebe Jesulein handfest bei Tisch mit einem Kanten Brot, während Maria den Brei umrührt. Die in Vitrinen gezeigten Keramikschalen, Zinkbecher und groben Messer aus der gleichen Zeit holen das frühe Mittelalter für den Besucher noch einmal dicht an die eigene Gegenwart heran.

Den „Primitiven“, wie man sie im Holländischen nennt, fehlt zugleich die Exaltiertheit, die übersteigerte Emotionalität, die gerade für die flämischen Werke bezeichnend ist. Ihre biblischen Szenen gewinnen eine Normalität, die beinahe ans Kuriose grenzt, etwa wenn bei der „Auferstehung des Lazarus“ von Geertgen tot Sint Jans zwei Anwesende sich wegen des Leichengeruchs die Nase zuhalten. In Holland gab es die verfeinerte Hofkultur nicht. Die Zentren der Macht befanden sich in Brügge und Gent. Der Herzog von Burgund kam selten in das sumpfige Gebiet gereist und ließ stattdessen lieber seine Statthalter walten.

Trotzdem war Holland nicht aus der Welt. Es gab Handelsbeziehungen, die Maler lernten ihre Kunst zu verfeinern in den Ateliers der Nachbarprovinz, und schließlich lockte Italien. In der Architekturdarstellung, den gemalten Interieurs, beginnt sich der Einfluss der Renaissance niederzuschlagen. Was ursprünglich ausschließlich für den Sakralraum, für Klosterkirchen gedacht war, findet nun seine Abnehmer auch bei privaten Kunden. Die einst nur als Stifterfiguren in den religiösen Szenen dargestellten Besteller rücken nun als Hauptfiguren ins Bild. Das Zeitalter des Porträts beginnt, wenn auch in Holland mit einiger Verspätung.

Rotterdam, Museum Boijmans van Beunigen, bis 25. Mai. Infos: www.boijmans.nl

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