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LIEBLINGS Stück (3): Unter freiem Himmel

Berlin hat 170 Museen. In den Ferien ist Zeit für Entdeckungstouren. Heute: Jan Schulz-Ojala über ein Open-Air-Museum in Schöneberg.

Heute geh’ ich mal nur ganz knapp vor die Tür. Nicht in eines dieser Museen mit erlesen gefüllten Räumen, sondern in das so unauffällige wie zeitlose wie vielgerühmte und doch viel zu wenig bekannte Museum, in dem ich wohne. Es besteht aus 80 Straßenschildern in meinem Kiez. Auf der einen Seite zeigen sie ein Bild, wie es einem Kinderbuch für die Ewigkeit entnommen sein könnte, und auf der Rückseite einen knappen Satz, der seine Leser in eine exakt datierte Zeit stürzt. Ich spaziere also meine Straße hinunter und stehe vor diesem Schild:

Ein Schachbrettmuster, ein Teil nur, immerhin so weit, wie ein Springer ziehen kann. Auf der Rückseite steht: „Juden werden aus dem großdeutschen Schachbund ausgeschlossen.“ Die Verordnung aus dem Juli 1933 ist eines von den ganz frühen jener 80 leisen Todesurteile, die auf den an Laternenmasten angebrachten Schildern zu lesen sind. Die meisten stammen von 1938, auch 1942 wütete der behördliche Ausgrenzungswahn noch mal heftig. Danach gab es keine Juden mehr, denen man etwas verbieten konnte.

Ob ich Schachspieler dieses Schild ein „Lieblingsstück“ nennen kann, in meinem stillen Lieblingsmuseum? Es ist Bestandteil der von Renata Stih und Frieder Schnock 1993 eingerichteten „Orte des Erinnerns im Bayerischen Viertel“ und bewahrt im Gedächtnis, dass damals Tausende in meinem Kiez wohnende Juden vor den Augen ihrer Nachbarn deportiert wurden. Für viele Verordnungen haben die beiden Künstler entsprechende heutige Orte gefunden – Spielplatz, Buchhandlung, Bank, Schule – und ihre Schilder auch dort aufgestellt. Für das Haus beim Schachbrett gab es keine Entsprechung, erinnert sich Renata Stih, „aber wir dachten, hier spielt vielleicht jemand Schach“. So einfach, so alltäglich, du kannst wegsehen oder hinsehen, du bist frei.

Hätte ja sein können, dass damals ein berühmter jüdischer Schachspieler in dem Haus wohnte, die besten deutschen Schachspieler, von Lasker bis Tarrasch, waren Juden; da lösten die neidischen Arier das Problem besonders eilig – und vereinsmeierisch. Der großdeutsche Schachbund machte sich auch später gründlich um den arischen Nachwuchs verdient, indem er die besten Partien – die mit jüdischer Beteiligung – aus seinen Lehrbüchern tilgte.

Aber was braucht man zum Schach? Ein Brett, 32 Figuren, zwei kluge Köpfe. Und eine Wohnung, aus der man nicht vertrieben werden kann.

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