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Lieblingsstück (9): Unsterbliches, gekittet

Berlin hat 170 Museen. In den Ferien ist Zeit für Entdeckungstouren. Heute: Thomas Lackmann über eine Marmortafel im Hof des Centrum Judaicum.

Unter der Goldkuppel der 1861 geweihten Neuen Synagoge in der Oranienburger Straße zeigt die Dauerausstellung Bauhistorie – und ein Spektrum jüdischen (Über-)Lebens in zwei Jahrhunderten. 1938 war der Prachtbau vor dem PogromAbfackeln bewahrt, später bombardiert worden. Nach der Sprengung des Hauptschiffes 1958 blieben nur Vorhallen stehen, durch die der Besucher nun an eine Fensterfront gelangt. Hier wandert der Blick auf einen Schotterplatz, darauf sind die Grundrisse des Sakralbaus mit Steinen markiert. Links ragt, geschützt von Glas und Stahl, eine alte Ziegelmauer empor. Auf dem Boden: Taubenfedern. Auf Paletten: eine gut zwei Meter breite Marmortafel aus einem anderen Quartier – einem verschwundenen Haus jenes Berliner Marienviertels, dessen Neuerfindung seit kurzem diskutiert wird.

Das Haus stand an der heutigen Ecke Karl-Liebknecht-/Spandauer Straße und blickt auf eine wechselhafte Geschichte zurück. Anfang des 20. Jahrhunderts von einem Weinhändler an das Hotel Altstädter Hof übergegangen, war es zeitweise eine orthodox-jüdische Herberge. Im 19. Jahrhundert hatten Kaufleute, ein Lakai, ein Klempner, ein Böttcher und der erste jüdische Stadtverordnete die Immobilie besessen. Ein Foto von 1885, kurz vor dem Abriss oder Umbau, lässt die riesige Gedenktafel über dem Türsturz erkennen. 1797 hatte der Bankier Joseph Mendelssohn das Haus gekauft; seine Eltern lebten bereits hier, mit Kindern und deren Lehrern, Dichtern und Mathematikern der jüdischen Aufklärung. Vor dem Modernisierungshelfer Mendelssohn, der hier Juden und Christen beriet, hatten Lessing und dessen Cousin, der Publizist Christlob Mylius, sowie der Verleger Friedrich Nicolai dort gewohnt. Die Spandauer Str. 68 (später: 33) ist das Haus der Berliner Aufklärung und des Experiments „deutsch-jüdische Freundschaft“.

Auf der Tafel steht: „In diesem Hause lebte und wirkte Unsterbliches Moses Mendelssohn. Geb: in Dessau 1729. Gest: in Berlin 1786.“ Nach 1885, mit dem Umbau des Blocks, wurde Nr. 68 zur Hinterfront; mit der Hausnummern-Änderung 1913 wanderte die Marmorplatte an ein falsches Gebäude und schließlich in den Keller Oranienburger Str. 28, wo man sie 1987 entdeckte. Noch durchs Fenster ist zu sehen, dass sie einmal in der Mitte zerbrochen war und gekittet werden musste. In den Furchen der Lettern blinken Reste von herausgekratztem Goldstaub.

Centrum Judaicum, Oranienburger Str. 28/30, Berlin-Mitte: So–Fr 10–20 Uhr; Führungen So 14 u. 16 Uhr, Mi 16 Uhr.

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