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Kultur: Lieve Joris geht den Leuten auf den Grund

Jedesmal wenn Pepe lernen mußte, erhitzte sich sein Kopf so sehr, daß er zu platzen drohte wie eine Glühbirne, die zuviel Spannung bekommt.Deshalb gab er sein Wirtschaftsstudium in Kisangani im Kongo auf.

Jedesmal wenn Pepe lernen mußte, erhitzte sich sein Kopf so sehr, daß er zu platzen drohte wie eine Glühbirne, die zuviel Spannung bekommt.Deshalb gab er sein Wirtschaftsstudium in Kisangani im Kongo auf.Bei Lieve Joris war es so ähnlich - sie brach das Psychologie-Studium nach einem Jahr ab, weil sie es auf der Schulbank nicht aushielt.Pepe wurde fahrender Händler, Lieve Joris Reisereporterin, die von Leuten wie Pepe erzählt.

Aber das war später.Zuerst gondelte die 1953 geborene Belgierin durch die USA, lebte in Washington, verkaufte Bücher, Blumen oder französische Pfannkuchen, um leben zu können - und um zu reisen, nach Mexiko etwa.Schon damals hatte sie diese innere Unruhe, die bis heute ihr Leben vorantreibt.Selten ist die Schriftstellerin länger als drei Monate "zuhause" - das ist für sie in Amsterdam.Erst vor zwei Wochen kam sie von einer siebenmonatigen Reise durch den Kongo zurück, jetzt ist sie in Berlin - gegen dessen Temperatur der afrikanische Schal, in den sich die zartgebaute Frau verkriecht, nichts vermag.Joris ist eine von sechs internationalen Autoren, die an einem Projekt zur literarischen Reportage teilgenommen haben, das im Haus der Kulturen der Welt mit Lettre International und dem Goethe-Institut realisiert wurde.Die Autoren wurden, um mit Berichten von ganz anderswo zurückzukehren, in verschiedenste Weltgegenden entsandt.Montag und Dienstag stellen sie ihre Reportagen im Haus der Kulturen vor, am Mittwoch findet dort ein Podiumsgespräch über die Kunst der Reportage statt.

Nach ihrer Amerikareise besuchte Lieve Joris eine Journalistenschule in Utrecht, 1978 ging sie nach Amsterdam, zur Wochenzeitschrift "Haagse Post".Vor allem schrieb sie Sozialreportagen, etwa über die Rolle der Frau oder über Immigranten in Amsterdam.Die eigentliche Herausforderung schien ihr jedoch immer schon die Reportage über fremde Länder zu sein.Damals war die arabische Welt ihr Hauptreiseziel, durch einen palästinensischen Freund war sie darauf gekommen: Joris hält es für wichtig, den Zugang zu einer fremden Kultur über eine persönliche Geschichte zu finden.Oft hatte die "Haagse Post" kein Interesse an den arabischen Themen, die sie, die Teilzeit-Mitarbeiterin, ihr vorschlug.Sie ließ sich dadurch jedoch nicht abhalten; häufig stellte sich Interesse ein, sobald sie zurückkehrt war und von ihren Erlebnissen erzählte.

Die Phasen, in denen Lieve Joris unterwegs ist, werden länger, ihre Aufenthalte in Amsterdam verkürzen sich.1986 entsteht das erste Buch über ihre viermonatige Reise durch die Golfstaaten.1989 fährt sie nach Budapest, für ein Portät von Gyorgy Konrád.Als sie erst neun Monate später zurückkehrt, ist man bei der "Haagse Post" am Ende der Geduld.Vor die Wahl gestellt, ganz für die Zeitung zu arbeiten oder zu kündigen, entscheidet sich Lieve Joris für letzteres.Aus dem Ungarnaufenthalt entsteht ein Buch mit dem Titel "Melancholieke revolutie".Seit damals arbeitet Joris als freie Reiseschriftstellerin.

Joris möchte denen eine Stimme geben, die nicht gehört werden.Deshalb berichtet sie von arabischen und afrikanischen Ländern.Über Indien, meint sie, schreibt zum Beispiel V.S.Naipaul, auch Südamerika hat genügend hervorragende Autoren.Joris recherchiert, indem sie mit den Menschen lebt.Zur Niederschrift zieht sie sich zurück, führt eine Art Klosterleben mit festen Regeln.Auf ihren Reisen dagegen läuft sie stets Gefahr, sich zu verzetteln: In Afrika ticken die Uhren anders, diesem Rhythmus muß man sich anpassen, um dem Land und seinen Leuten auf den Grund zu gehen.Es ist nie vorher absehbar, wie lange es dauern wird, bis sie "verstanden" hat.Für die letzte Geschichte ihres jüngsten Buches "Mali Blues" verbrachte sie ein ganzes Jahr mit dem Sänger Boubacar Traore."Wenn du eine Geschichte schreibst, bist du ihr Diener, du mußt dich selbst vollkommen zurücknehmen.Und Geduld haben, bis du lernst, die neue Umgebung zu dekodieren.Natürlich gibt es Grenzen dessen, was man als Europäer nachvollziehen kann - aber auch über die kann man schreiben.""

Bei der Lektüre von Lieve Joris Geschichten spürt man, daß sie aus einer tiefen persönlichen Kenntnis und Anteilnahme geschrieben sind.Sie funktionieren wie eine Brille, durch die man das lebendige, bunte Bild einer fremden Kultur betrachtet.Mit wenigen schmucklosen Worten macht sie Stimmungen so greifbar, daß man glaubt, geröstete Erdnüsse und Salimas Krapfen zu riechen.Durch die Geschichten einzelner Menschen vermittelt Joris die Mentalität und die Problematik eines Landes einfach, verständlich.Heraus kommt, was ihre feste Überzeugung ist: daß alle Menschen, so unterschiedlich sie nach außen sein mögen, im Inneren dasselbe wollen.Der Kollege V.S.Naipaul hat das "pursuit of happiness" genannt.

Lieve Joris stellt ihren Reisebericht über den Kongo am Dienstag, 6.Oktober, um 20 Uhr im Haus der Kulturen der Welt vor.

DOMENICA FRIEDEL

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