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Die Schwester, das Geheimnis. Lilith Stangenberg als Ginnie (m.) im Kreis ihrer Filmfamilie.

© Farbfilm

Lilith Stangenberg in „Idioten der Familie“: Freiheit trotz Handicap

Zwischen Alltag und Ausnahmesituation: Michael Klier porträtiert in „Idioten der Familie“ das Leben einer geistig behinderten Frau und ihrer Geschwister.

Ginnie (Lilith Stangenberg) schleicht durch den Garten ums Haus herum, schaut durch das große Fenster ins Wohnzimmer und versteckt sich im Gebüsch. Als ahne sie, dass sie schon bald zum Gravitationszentrum eines chaotischen Kammerspiels werden wird. Der Anfang von Michael Kliers „Idioten der Familie“ gehört ganz allein Ginnie.

Die folgenden knapp 100 Minuten werden die vier Geschwister um das geistig behinderte „Nesthäkchen“ herumwirbeln, sie herzen und betatschen und auf sie einreden. Sie werden sich Dinge an den Kopf werfen, Geständnisse ablegen, Kindheitserinnerungen teilen, Musik machen, Schnaps trinken und sich tödlich auf die Nerven gehen. Kurz: Sie alle werden sich zu Idioten machen.

Heli (Jördis Triebel) hat sich ihr halbes Leben lang um ihre Schwester gekümmert. Während Frederick, Tommy und Bruno aus dem gemeinsamen Elternhaus auszogen, sich ihren Karrieren widmeten, Studien begannen und abbrachen oder für Jahre auf den kanarischen Inseln verschwanden, hat sie sich „geopfert“.

Kein Bild habe sie, die „gescheiterte Künstlerin“, seitdem gemalt, meint Heli einmal bitter. Jetzt will sie ein neues Leben beginnen – ohne Ginnie. Ein Heim ist gefunden, es soll gut sein.

Michael Klier („Ostkreuz“) konfrontiert seine fünf Figuren in einer Ausgangssituation, die ständig zwischen Alltag und Ausnahme wechselt. Bevor Ginnie am nächsten Tag abgeholt wird, wollen die Geschwister in dem idyllischen Haus am Rande Berlins noch einmal einen gemeinsamen Tag verbringen.

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Ihr Wunsch, Normalität zu spielen, scheitert nicht nur an ihren Egoismen. Auch Ginnie weigert sich, mitzumachen, wirft Besteck auf den Boden, zerschneidet Fotos, kocht Schuhe in der Mikrowelle. Auf Helis routinierte Strenge reagieren die Brüder mit Empörung.

Jeder von ihnen glaubt, Ginnie näher zu sein, stellt den Flüsterer, Kümmerer und Versteher zur Schau. Ihre unbeholfene Fürsorge und Hilfsbereitschaft ist vor allem aber Ausdruck eines schlechten Gewissens.

Geradezu hysterisch bringen die Geschwister alternative Konzepte aufs Tapet: Man könnte eine Behinderten-WG gründen oder das Haus verkaufen und mit dem Geld eine Pflegerin bezahlen. Timmy (Hanno Koffler), der größte Eskapist der Familie, beteuert wenig überzeugend, gleich selbst die Betreuung übernehmen zu wollen.

Die Schwester wird zur „Aufgabe“

Ginnie wird in dieser Konstellation vor allem zur Aufgabe, an der man sich „abzuarbeiten“ hat. „Unsere gehandicapte Schwester ist dazu da, dass wir anders miteinander umgehen, mehr zur Familie werden“, meint Bruno (Florian Stetter).

Seinen Geschwistern hält er einen oberlehrerhaften Vortrag über den „kaputten Individualismus“ einer Gesellschaft, die Schwache und Behinderte einfach abschiebt. Er selbst glaubt, in Afrika Gutes zu tun.

„Idioten der Familie“ ist vor allem als Ensemblefilm geglückt, der die wechselnden Figurenkonstellationen in schöne Bewegungsdynamiken übersetzt. Die Kamera von Patrick Orth tastet sich nah an Gesichter und Körper heran, ist dabei jedoch nie übergriffig – ganz im Gegensatz zu den Geschwistern.

Diese setzten sich gegenseitig schwer zu, sei es mit falschen Projektionen oder Geringschätzung. Der erfolgreiche Orchestermusiker Frederick (Kai Scheve) schaut auf seinen Bruder Tommy, einen Freejazzer, herab, beneidet ihn gleichzeitig aber um seine Freiheit, sich den elterlichen Erwartungen entzogen zu haben. Jeder glaubt, der andere habe es irgendwie besser erwischt.

Was Ginnie wahrnimmt und sieht, wenn sie an den auf sie gerichteten Augen vorbeistarrt, bleibt ihr Geheimnis. Auch der Film maßt sich dieses Wissen nicht an, Klier lässt seiner Hauptdarstellerin Lilith Stangenberg allen Raum.

Etwa dafür, ein autonomes Sexualleben zu genießen – was die Geschwister regelrecht schockiert. Oder sich anders als durch artikulierte Worte mitzuteilen. Einmal spielen Frederick und Tommy den „Abschied“ aus Gustav Mahlers Liederzyklus „Lied von der Erde“, als Ginnie mit ihrem geschulterten Kassettenrekorder hinzukommt, aus dem ein Rock-’n’-Roll-Song schallt.

Mit nicht mehr als ein paar ungelenken Bewegungen führt sie in diesem feierlichen Moment die falsche Kultiviertheit ihrer Familie vor. Ein entrückt-verzauberter Tanz.
(In den Kinos b-ware!, Filmkunst 66, Hackesche Höfe, Sputnik)

Esther Buss

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