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Kultur: Lissabon bebt, Paris tanzt

Nahes und fernes Unglück: Henning Ritter erkundet Geschichte und Wesen des Mitleids

War es tatsächlich Mitleid, das die westlichen Fernsehzeugen der asiatischen Flut erfasste? Oder merkten sie nur, dass etwas Ungeheuerliches ihre Gemüter bewegte? Wie weit reicht in der globalisierten Welt die Fähigkeit zum Mitleiden? „Reicht unsere Informiertheit weiter als unsere Gefühle“, fragt Henning Ritter in seinem „Versuch über das Mitleid“ und stellt fest: „Von wenigem sind die Angehörigen der westlichen Zivilisation so sehr überzeugt wie von ihrer Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen. Sie glauben sogar, dass diese Fähigkeit stetig zunehme, so dass eines Tages eine den ganzen Globus umfassende Moral der Einfühlung durchgesetzt ist.“

Das Einfühlungsvermögen der Menschen beschäftigte die Philosophen seit dem 18.Jahrhundert – etwa in der so genannten Mandarinfrage: Was würde ein Mensch tun, wenn er mit der bloßen Kraft seines Willens einen alten Mandarin im fernen Peking töten und dadurch reich werden könnte? Für Chateaubriand ist die Antwort klar. Beim bloßen Gedanken an einen solchen Vorschlag meldet sich sein Gewissen; sein christlicher Glaube bewahrt ihn vor jeglicher Anfechtung. Diderot hingegen behauptet, „dass die zeitliche und räumliche Distanz vielleicht alle Empfindungen und jede Art des Gewissens abstumpfe, sogar wenn man einen Mord begangen hatte.“

Von Adam Smith wird der „humane Londoner“ eingeführt: Eine Katastrophe – wiederum in China – bewegt das Gemüt des Mannes. Doch so stark die Erschütterung ist, seine Gedanken münden in allgemeine Betrachtungen über das Auf und Ab des menschlichen Lebens. Auch Voltaire, der nach dem Erdbeben in Lissabon von 1755 zunächst nicht wagt, „über seine Koliken zu jammern“ meint dann doch, man solle seine Geschäfte nicht vernachlässigen. Der „humane Londoner“ ähnelt dem Philosophen Rousseaus, der sich die Ohren verstopft, um die Schreie eines Menschen unter seinem Fenster nicht zu hören zu müssen; er denkt gerade über das Elend der Menschheit nach. Beide verlieren sich in abstrakter Humanität, von der Ernst Jünger meint, sie sei das Kennzeichen bürgerlichen Denkens.

Worauf aber läuft die Diskussion bei der Frage nach Egoismus oder Altruismus des Menschen hinaus? Darauf, dass er im Naturzustand böse sei und „nur“ an seine Selbsterhaltung denke? Oder darauf, dass er grundsätzlich gut sei und die Zivilisation ihn verdorben habe, wie Rousseau glaubte? Rousseau sprach von einem angeborenen Widerwillen des Menschen, seinesgleichen leiden zu sehen, als Urform des Mitleids. Die Skeptiker bezweifelten eine Globalisierung der Moral und warnten davor, die Mitleidsfähigkeit zu überschätzen; wenn überhaupt, so entstehe sie durch Identifikation mit dem Naheliegenden und muss erworben werden. Nach dem Erdbeben in Lissabon hatte Voltaire lapidar festgestellt: Lissabon liegt in Trümmern, und in Paris wird getanzt.

Die Mandarinfrage, der humane Engländer und der Philosoph, der sich die Ohren zuhält – sie alle sind Gedankenspiele aus einer anderen Wirklichkeit. Denn abgesehen davon, dass beim Erdbeben von Lissabon, bei dem schätzungsweise 60000 Menschen starben, die ersten Katastrophenmeldungen Paris und London erst nach zwei Wochen erreichten, kannten die Philosophen des 18.Jahrhunderts aus rein geografischer Beschränktheit nicht das Ausmaß des Grauens, mit dem wir täglich konfrontiert werden. Sie konnten also auch nicht wissen, dass Mitleid erregende Geschehnisse heute immer auch politische Antworten verlangen. Und: Hätten sie sich vorstellen können, dass die Fähigkeit zum Mitgefühl von unmittelbarer Betroffenheit in Frage gestellt werden kann?

In dem indischen Beitrag zum Episodenfilm „11’9’01– September 11“ beklagt eine Mutter den Tod ihres Sohnes, der als Helfer im World Trade Center umgekommen ist und als Held gefeiert wird. Sie fragt: „Ist das der Preis dafür, dass wir dich zum Mitgefühl erzogen haben?“

Dieses Buch bestellen Henning Ritter: Nahes und fernes Unglück. Versuch über das Mitleid. Verlag C.H.Beck, München 2004. 224 Seiten, 19,90 €. – Der Autor liest heute um 20 Uhr im Berliner Literaturhaus.

Gabriele Schmelz

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