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Literatur BETRIEB: Die große Reibung

Marcel Reich-Ranickis 90. Geburtstag vor gut zwei Wochen war nicht zuletzt in den Medien ein riesengroßes Fest mit Interviews, Lebensbetrachtungen und mehr.

Marcel Reich-Ranickis 90. Geburtstag vor gut zwei Wochen war nicht zuletzt in den Medien ein riesengroßes Fest mit Interviews, Lebensbetrachtungen und mehr. Genauso interessant wie die vielen Würdigungen waren aber auch die Ratschläge, die man als Laudator mit auf den Weg bekam. Man solle Reich-Ranicki doch mal ordentlich einen mitgeben, hieß es da, gerade was er mit Walsers Roman „Jenseits der Liebe“ gemacht hätte, sei ja eine Unverfrorenheit gewesen; oder erst das Zerreißen des Grass-Romans „Ein weites Feld“ damals auf dem „Spiegel“-Cover! Kollegen, die dem Jubilar und insbesondere seiner Art von Literaturkritik nie wohl gesonnen waren, erbosten sich über das Zuviel an huldigenden Worten. Sie merkten an, Reich-Ranicki sei stehen geblieben bei der Literaturkritik eines Georg Lukács, des marxistischen Literaturkritikers mit bürgerlichem Geschmack. Sie hätte sich dann nicht mehr viel weiter entwickelt, im Gegenteil, sie sei immer leerer und apodiktischer geworden. Sie entziehe sich so jedes qualitativen Urteils.

Es hatte den Anschein, als sei Marcel Reich-Ranicki nicht 90 Jahre alt geworden, sondern 60 oder 65; als stünde er noch mitten im Zentrum des literaturkritischen Lebens, als würde er sich nicht seit langem schon auf anderen Feldern tummeln, als Kritiker des Fernsehens, als Kanonherausgeber, Anthologiebetreuer, freundlicher Leserfragenbeantworter.

Reich-Ranicki selbst dürfte bei den vielen Feierlichkeiten diese Einwände kaum vernommen haben. Sollte es trotzdem der Fall gewesen sein, hat er sich vermutlich gefreut. Als Mensch und Kritiker liebt er den Widerspruch. Zu der Reibung aber, die er tatsächlich bis in dieses hohe Alter zu erzeugen vermag (und die auch im Fall eines 95. Geburtstags kaum abnehmen würde), ist es in diesem Ausmaß bei keinem seiner Nachfahren je gekommen.

Im Gegenteil: Es besteht zurzeit eine eher beunruhigende Reibungslosigkeit, ein „Ach ja, meine Güte, die Literaturkritik!“ oder ein „Ach nein, immer diese Hegemännerei“. Es herrscht ein sehr anständig differenzierendes Abwägen vor, bei dem jedoch nicht klar ist, ob dieses auch Publikum findet. Deshalb gibt es immer mal wieder den Ruf nach mehr Kritikern wie Reich-Ranicki, was bei dessen Einmaligkeit eher nicht möglich ist. Nach mehr Temperament, mehr Schärfe, mehr Lust am Verriss (warum bloß, wenn man denn auch den Absichten des Autors gerecht werden will?). Das irritiert dann umso mehr, wenn man nach einer Kritik hört, dass diese jetzt aber eine tolle „Empfehlung“ gewesen sei – obwohl man in der Besprechung alles versucht hat, nur keine platte Empfehlung auszusprechen.

Vielleicht aber hat man seinen Spaß gehabt beim Schreiben (und vorher beim Lesen) und das transportieren können, vielleicht hat man selbst einen unterhaltsamen Text geschrieben – beides verhindert nicht, einem literarischen Werk auf den Grund zu kommen; verhindert nicht herausarbeiten zu können, was den Überschuss ausmacht, den Literatur bestenfalls hat, den ästhetischen Vorsprung, den sie vor dem Leben, der Wirklichkeit hat, die Wahrheit, die nur sie zu erschließen in der Lage ist. Und wie recht hatte der auch von Reich-Ranicki verehrte August Wilhelm Schlegel, der 1828 in seinem Aufsatz „Über kritische Zeitschriften“ schrieb: „Ein Kunstrichter zu sein, nämlich der über Kunstwerke zu Gericht sitzt und nach Recht und Gesetz Urteil spricht, ist etwas ebenso Unstatthaftes wie Unersprießliches und Unerfreuliches“.

Was wiederum nicht heißt, dass es nichts anderes geben sollte als „Hat mir gefallen“ oder „Nicht meine Tasse Tee“. Den Spaß bei ihrem Tun sollte man der Literaturkritik anmerken, die Freude an der Literatur – und auch das Entsetzen darüber, was für seltsame Bücher erfolgreich veröffentlicht werden. Wie man aber das Bedürfnis eines großen Publikums, das etwa mit Tommy Jauds „Hummeldumm“ anscheinend sehr zufrieden ist (das Buch steht seit Wochen auf Platz eins der Bestsellerlisten), mit dem Anspruch und letztlich auch dem Bedürfnis einer Literaturkritik in Einklang bringt, dafür ist noch kein Kraut gefunden worden. So dürfte wohl nur ein sich mit Grausen abwendender Marcel Reich-Ranicki „Hummeldumm“ zu einem Ladenhüter machen.

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