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Kultur: Literatur gekühlt

Hochwasser 1: Prags Archive und Bibliotheken zerstört

Die Karlsbrücke hat das Hochwasser überstanden, die erste der historischen Synagogen ist wieder für Touristen geöffnet. Weit beträchtlicher und überdies politisch heikel sind in Prag die Schäden an Büchern und Archivdokumenten. „Diese Schäden misst man in Kilometern“, sagt Miroslav Kun vom Nationalen Zentralarchiv. In den tschechischen Bibliotheken sind mehr als eine halbe Million Bücher in den Fluten der Moldau versunken, in Archiven Zehntausende von Akten durchnässt. In Karlin, dem vom Hochwasser am härtesten betroffenen Stadtteil, ist nicht nur das Archiv des Technischen Museums mit allen Dokumenten zur böhmischen Industriegeschichte untergegangen. Die drei Meter hohe Flut hat auch das Militärhistorische Archiv schwer in Mitleidenschaft gezogen.

Dieser Fall droht jetzt politisch brisant werden. Denn da die Bestände weitgehend als geheim eingestuft waren und von Historikern weder gesichtet noch bearbeitet werden konnten, weiß niemand, was in den 25000 überfluteten Kartons steckt, auch die Leiter des Archivs nicht. Sicher ist, dass das Archiv die Dokumente aus der Zeit von 1945 bis 1949 enthält oder enthalten hat. Zahlreiche von ihnen sind nun beschädigt. Im aktuellen Streit um die Benes-Dekrete und um mögliche Gräueltaten von Tschechen an Sudetendeutschen drohen daher unersetzliche Beweisstücke verloren zu gehen. Nicht nur die Forschung, auch die juristische und politische Aufarbeitung leidet darunter.

Für Unruhe hat jetzt in Prag die Bemerkung von Archiv-Direktor Jan Konarik gesorgt, der meinte, die 6000 wichtigsten Akten seien tiefgekühlt und damit gerettet und die übrigen seien „vollkommen unwichtig“. Den Zorn von Historikern hat sich Konarik bereits zugezogen. Auch wird er in den Medien beschuldigt, sich nicht engagiert genug für die Sicherung der Bestände eingesetzt zu haben. Er habe es unterlassen, Soldaten als Verstärkung anzufordern.

In den Bibliotheken Prags müssen beträchtliche Teile wissenschaftlicher Sammlungen – etwa an der Juristischen Fakultät der Universität und an der Akademie der Wissenschaften – ebenso aufgegeben werden wie der populäre Lesebestand einiger Stadtteilbüchereien. Alte, unersetzliche Drucke sind beschädigt oder zerstört. Und vieles von dem, was aus Wasser und Schlamm geborgen wurde, ist auf Jahre unbrauchbar. Die Prager haben zwar mit der Ersten Hilfe sehr schnell und auf einzig wirksame Weise begonnen: Sie haben die Bücher tiefgekühlt, damit sie vor Schimmel und Fäulnis bewahrt bleiben. Aber wollte man alle Schriften danach vakuumtrocknen und restaurieren, wäre man nach ersten Schätzungen hundert Jahre beschäftigt. Auch muss erst einmal sortiert werden: In der Rettungs-Hektik haben die Helfer nicht zwischen wertvollen Büchern und Massenprodukten unterschieden. Sie haben alles gleichermaßen in Behälter gepackt. Die Entscheidung, was sinnvollerweise erhalten werden muss und was mit Blick auf Kosten und Ersetzbarkeit entbehrlich ist, muss erst noch mühsam getroffen werden. Paul Kreiner

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