zum Hauptinhalt
Ging täglich bis zu zwanzig Meilen zu Fuß. Dickens eilt zu einer Lesung von London nach Paris. Karikatur von André Gill aus dem Jahr 1868.

© culture-images/Lebrecht

Literatur: Gerechtigkeit gibt es nur in dieser Welt

Der British Council feiert in Berlin den 200. Geburtstag von Charles Dickens. Wie und worüber würde der Londoner Klassiker wohl heute schreiben?

Von Gregor Dotzauer

Einer, der als Prosaminiaturenschnitzer heute ungleich moderner wirkt als viele epische Dickbrettbohrer, kokettierte einmal damit, dass ihn die Lektüre von Charles Dickens fast dazu gebracht habe, den eigenen Beruf an den Nagel zu hängen. „Weil ich Dickens gelesen habe, der ohne Frage der Häuptling, Major, Oberst und Generalstabschef der Schriftstellerkunst ist, bin ich nun ein elender, trauriger Bettler.“ Robert Walser wähnte ihn als großen Herrn in der Kalesche vorbeisausen, während er zusammen mit allen anderen fußlahmen Schreibergestalten, einen armseligen Karren ziehend, das Nachsehen habe: „Sehen Sie den Glanz? Hören Sie das schmetternde Sausen? Feurige Pferde jagen und galoppieren mit dem herrlich geschmückten Galawagen davon. Welcher beängstigende Schwung, welche überwältigende Pracht! Nein, Dickens veraltet nie!“

Das glaubte Robert Walser in einer schwärmerischen Aufwallung vor rund hundert Jahren. Noch einmal hundert Jahre zuvor, am 7. Februar 1812, war Charles John Huffam Dickens gerade erst in Landport, Portsmouth, geboren worden. Zum Bicentennial müssen sich wohl zumindest Dickens’ deutsche Leser eingestehen: Kein Ruf von Donnerhall, der im Rauschen der Gegenwart nicht vergehen könnte. Hierzulande ist Dickens, wie es auf dem Umschlag seiner zum Teil erstmals übertragenen Nachtstücke „Reisender ohne Gewerbe“ mit unfreiwillig treffender Komik heißt, jenseits akademischer Kreise und von Arno-Schmidt-Zirkeln nicht mehr als „der berühmteste englische Romancier der Welt“.

Auf der Insel, wo man ihn mit der Muttermilch einsaugt, ist er als Teil des eigenen Fantasiehaushalts womöglich lebendiger als der zweifellos größere Shakespeare. Selbst hartnäckige Nichtleser begegnen ihm zwangsläufig in den TV-Mehrteilern, die seine bekanntesten Romane regelmäßig neu dramatisieren - darunter auch solche wie „Great Expectations“. In der neuen Übersetzung von Melanie Walz wartet die packende Geschichte des Waisenjungen Pip darauf, das Bild des hoffnungslos sentimentalen, in pittoresken Düsternissen schwelgenden Moralisten zu erweitern, das Dickens mit „Oliver Twist“ erwarb.

Die Briten betreiben, wenn sie Dickens feiern – und sie tun das gerade mit über 100 Veranstaltungen in 50 Ländern – Denkmalspflege. Die Deutschen lassen sich auf eine Geisterbeschwörung mit ungewissem Ausgang ein. Und so schienen bei dem zweieinhalbtägigen Seminar, das der British Council unter der Leitfrage „What would Dickens write today?“ in der Berliner Bertelsmann-Repräsentanz Unter den Linden veranstaltete, mit einer Ausnahme alle englischen Schriftsteller, die im Gespräch mit dem Anglisten John Mullan die Bühne betraten, darauf bedacht, den viktorianischen Geist des Meisters mit nur ja keinem bösen Wort zu verjagen.

Keiner wollte zugeben, dass ihm Dickens auch mal schlicht zu dick oder auch nur zu dick aufgetragen, zu abstrus, zu theatralisch, zu gefühlig, zu effektsicher, zu abschweifungswütig, zu wimmelig, zu symbolhaft, zu grotesk, zu satirebegierig, und in der braven Symmetrie von Gut und Böse zu versöhnlich sein könne. Denn fast überall, wo man bei „David Copperfield“, „Nikolas Nickleby“ oder „Bleak House“ Gewebeproben nimmt, entdeckt man zwar Charakterisierungen, die bis in die fernste Nebenfigur hinein auf Anhieb sitzen, rasante Dialoge und eine rhythmisch-syntaktische Sicherheit, der man die Hast, mit der Dickens zeit seines kurzen Lebens schrieb (er starb 1870 an einem Schlaganfall), nicht anmerkt. Das Problem ist nicht das Überraschende im Einzelnen, es ist die lange Strecke. In dieser Hinsicht ist Hans-Dieter Gelferts ganz um Zuverlässigkeit und in der Entzerrung von Lebenserzählung und Werkdeutung um Brauchbarkeit und Übersichtlichkeit bemühte Biografie ein Muster an distanzierter Bewunderung – und ein Fürsprecher von Dickens’ immerhin „latenter Modernität“.

Es war Toby Litt, der an einem Nebenwerk, einer in „A Christmas Tree“ en passant beschworenen Spukgeschichte, Dickens’ manische Weltlichkeit so respektvoll wie kopfschüttelnd zu zeigen versuchte. Wenn Oscar Wilde sagte, man brauche ein Herz aus Stein, um über den Tod von Little Nell im „Raritätenladen“ nicht zu lachen, braucht man angesichts der weiblichen Wasserleiche, die allnächtlich einem See vor einem einsamen Landhaus entsteigt, um von rostigen Schlüsseln umgürtet vor dem Gemälde ihres treulosen Geliebten zu demonstrieren, wenigstens ein Brett vor dem Kopf. Hier ächzt und kracht es im erzählerischen Gebälk, dass es eine Freude ist, und der Geist ist in seinem banalen Unfrieden so wenig zu erlösen wie für andere eine Gefahr.

Wie anders der Geist aus der „Weihnachtsgeschichte“. Don Giovanni wird vom steinernen Gast, einem Teil der göttlichen Ordnung heimgesucht und von der Erde verschluckt. Dickens’ Geizhals Scrooge dagegen, der Archetyp eines Sünders, erhält von jemandem Besuch, der die menschliche Ordnung zurechtrücken soll: So wird Scrooge im letzten Moment geläutert. Der weltlichen Gerechtigkeit ist Genüge getan und dem christlichen Erlösungsgedanken samt Höllenstrafen ein blasphemisches Schnippchen geschlagen – und das zu Weihnachten: „Wenn es nach mir ginge“, sagt Scrooge einmal, „sollte jeder Schwachkopf, der mir mit ,Fröhliche Weihnachten’ kommt, in seinem eigenen Pudding gekocht und mit einem Stechpalmenpfahl mitten durchs Herz begraben werden.“ Diese Erzählung, schien Toby Litt sagen zu wollen, ist nicht halb so harmlos, wie ihr denkt.

„What would Dickens write today?“ Die Frage ist insofern naiv, als Dickens, wie er selbst wusste, ein Produkt seiner Zeit war. Traumatisiert durch das gute Jahr, das er als Zwölfjähriger in einer Londoner Schuhwichsfabrik rackerte, während sein Vater im Schuldgefängnis saß. Besessen von einem Aufstiegswillen, der zugleich eine manische Philantropie hervorbrachte. Auf der Flucht vor einer enttäuschten Liebe, die ihn zuerst in eine Ehe mit zehn Kindern trieb und dann in eine undurchsichtige Leidenschaft für die junge Schauspielerin Ellen Ternan. Und am Ende seines Lebens von der Idee erfüllt, er hätte besser ein Theater eröffnen sollen.

Auch der alle Schichten ausleuchtende Gesellschaftsroman in Cinemascope, der um die ewiggleichen Leitmotive kreiste, das Wasser (mit zahllosen Ertrunkenen), das Gefängnis und die Aufgabe, vor die einen die eigene Herkunft stellt, ist so nicht mehr denkbar. Dickens dachte vorfreudianisch und vormarxistisch, und trotz seiner Neigung Gewalt und Komik zu verbinden, hätte er an Quentin Tarantino wenig Vergnügen gefunden. Allein Dame Antonia S. Byatt bestand darauf, dass höchstens bösartige Lektoren Schriftsteller heute davon abhalten könnten, so zu schreiben wie Dickens. Man kommt dann wie Philip Hensher schnell zu der Prophezeiung, dass der nächste Dickens aus Indien, Pakistan oder China kommen müsse, jedenfalls aus einem Land mit drastischen Ungleichheiten. Doch nimmt man sich damit nicht die Neugier für das Leben vor der Haustür?

Heute wäre Dickens zwischen den Künsten wohl zerrissen, glaubte Hensher. Während im 19. Jahrhundert Literatur als die reichste Ausdrucksform galt und das größte Publikum anzog, würde er nun vielleicht auf Kino und Fernsehen schielen. Und sofort fielen die Namen der üblichen Verdächtigen. Ein Epos wie die „Sopranos“ könnte sein Fall sein (David Nicholls). Eine Comedyserie wie „Fawlty Towers“ sei Dickens angemessen, meinte seine jüngste Biografin Claire Tomalin. Hauptdarsteller John Cleese habe darüber die komplette Produktionskontrolle behalten. Das hätte dem Controlfreak Dickens gefallen. Nein, warf Hensher ein, dann müsse es schon „The Wire“ mit 950 namentlich eingeführten Figuren sein, um das Format von „Bleak House“ zu erreichen.

Und wer setzt Dickens’ sozialkritisches Erzählen heute fort? Die schottische Krimiautorin Denise Mina nannte ihre Kollegen Dennis Lehane und Ian Rankin. Hensher liebäugelte mit Elmore Leonard, und der gerade mit dem T.S.-Eliot-Prize ausgezeichnete Schotte John Burnside empfahl gleich Don DeLillo. Nicht infrage kämen, so David Nicholls, nur Jonathan Franzen und Jeffrey Eugenides: Sie seien, erklärte Nicholls, ganz auf fade Mittelschichtsprobleme geeicht. Da war man sich einig.

Vielleicht kommt uns Dickens, wie Dan Franklin von Random House (UK) sagte, auch durch den Gedanken, Romane zu serialisieren, wieder näher. Ab 2014 will der Amerikaner Mark Z. Danielewski, von dem nun der Roman „Only Revolutions“ (Klett-Cotta) erscheint, bei Pantheon Books im Dreimonatsabstand ein 27-teiliges Epos unter dem Titel „The Familiar“ vorlegen. Das soll Dickens’ Fortsetzungsprojekte endlich ins digitale Zeitalter transportieren.

Übrigens: Der Name Oliver Twist fiel kein einziges Mal.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false