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Kultur: Literatur ist schon immer die Sache einer Minderheit gewesen

In der Krise ist alles anders, und doch keimt hier und da Hoffnung auf: Beobachtungen bei der Frankfurter Buchmesse zwischen weinseligen Verlagsempfängen und verschlankten Messeständen

Von Helmut Böttiger

Es gibt immer weniger, woran man sich halten kann. Am Frankfurter Bahnhof steigt ein Typ aus, mit einen schäbigen Rucksack auf dem Rücken und einem Parka, der bessere Tage nie gesehen haben kann – und es stellt sich heraus, dass wir einen der einflussreichsten Lenker deutscher Gegenwartsliteratur vor uns haben, einen profilierten Programmchef. In der Literaturszene sieht oft vieles ganz anders aus, als es ist. Die einzige Konstante, die es auf der Buchmesse noch gibt, ist der Kritikerempfang von Siegfried Unseld. Jahraus, jahrein fand er nach demselben Modus statt, man traf sich in der Privatwohnung des Suhrkamp-Verlegers, lauschte der Lesung eines Suhrkamp-Autors, auf die man sich nie konzentrieren konnte, weil es auf der Buchmesse um etwas anderes geht – aber tat deswegen umso disziplinierter. Da waren Passagen von Handke zu hören wie letztes Jahr, und manchmal auch ganz andere Prosaetüden, die das satt Realistische im Visier haben und wie „Harry Potter und der Kümmeltürke“ klingen. Dann aber konnte man endlich Klatsch austauschen und Betriebsunfälle besprechen.

In diesem Jahr war allerdings alles viel karger. Denn Unseld, der schwer erkrankt war und auf dem Weg der Genesung ist, konnte nicht zur Messe kommen. Man entschied, den Empfang ins Suhrkamp-Gebäude zu verlegen. Das war ein zögerndes Betreten von Neuland. Die funktionalen Verlagsräume wirkten wie leere Kulissen. Statt einer Begrüßung gab es gleich deren drei, von Ulla Berkéwicz, der Frau Unselds, von Günter Berg, dem Geschäftsführer, und von Rainer Weiss, dem Programmleiter; alles bewegte sich zwischen den Polen von Herunterspielen und Bedeutsamkeit. Es gibt wirklich kaum noch etwas, an das man sich halten kann.

Gigondas und Heine

Der Verlagsleiter von Hoffmann und Campe, Rainer Moritz, konnte sich wenigstens an 99 Flaschen Gigondas halten: ein schwerer südfranzösischer Rotwein, der für Martin Walser wie geschaffen ist. Denn für Martin Walser schien der „Preis der Kritik“, den der Verlag Hoffmann und Campe dieses Jahr zum ersten Mal auf der Messe verlieh, geradezu eigens erfunden worden zu sein; die Frage, ob nun zuerst der Preis oder vielleicht doch zuerst der Preisträger da war, stand fast plastisch spürbar im Raum: dem 53. Stockwerk des „MainTowers“, von dem aus Frankfurt fast so aussieht wie New York. Walsers Roman „Tod eines Kritikers“, allen noch in Erinnerung, ist eines „Preises der Kritik“ ja durchaus würdig. Moritz – ein Filou, wer Böses dabei denkt – lobte in seiner Laudatio listig denn auch den Gigondas, neben der zwölfbändigen Düsseldorfer Heine-Ausgabe, einem Kernstück der Campeschen Verlagsgeschichte, der materielle Gegenwert des Preises. Vielleicht werden bei künftigen Preisträgern leichtere Rotweine genügen.

Dass bei Hoffmann und Campe demnächst ein Materialienband zu Walsers „Tod eines Kritikers“ erscheint, ist in diesem Zusammenhang vermutlich nicht ganz ohne Belang: herausgegeben von sechs bestallten Professoren. Und dass die kürzlich durch die Gazetten gegangenen 60 Seiten, die Martin Walser jetzt als Nachklapp zum „Tod eines Kritikers“ verfasst hat, womöglich bei Hoffmann und Campe herauskommen – das halten manche durchaus für möglich, nachdem Suhrkamp, Walsers Stammverlag, abgewunken hat. Mit Rainer Moritz sollte man aber keine Wetten abschließen.

Ein neuer Verlegertypus ist mittlerweile unübersehbar ins Rampenlicht getreten. Man sieht das nicht nur an Moritz, der wendig zwischen Trash und gesicherter Literaturgeschichte hin und her pendelt. Das schönste Bild dafür war, wie kurz nach Bekanntgabe des Nobelpreises an Imre Kertész der neue Rowohlt-Verlagsschef, Alexander Fest, kurz am Suhrkamp-Stand vorbeikam, und Günter Berg ihm dann folgte: Fest im sicheren Besitz der Rechte der bisherigen Bücher von Kertész, vor allem des „Romans eines Schicksallosen“, und Berg als Vertreter des Verlags, bei dem die künftigen Bücher von Kertész erscheinen werden. Dass Kertész den Verlag wechselte, hat mit den Wirren im Rowohlt-Verlag zu tun, die vor Fests Berufung einiges durcheinanderwirbelten.

Ein paar Dutzend Seiten

Welche Aufbruchstimmung jetzt wieder bei Rowohlt herrscht, wurde beim offiziellen Empfang des Verlages im Café der Kunsthalle Schirn deutlich; fast trauerte man dem alten, mittlerweile legendären Ort in der Siesmayerstraße, der großzügig war und repräsentativ, gar nicht mehr nach. Alexander Fest hat eine enorme Wegstrecke zurückgelegt, seit er vor wenigen Jahren seinen neugegründeten „Alexander Fest Verlag“ in einem Nebensalon der Festhalle an der Messe vorstellte. Er leitet mittlerweile einen großen Traditionsverlag und ist einer der wenigen Hoffnungsträger der Branche. Der Erfolg seines früheren Kleinverlags, die Durchsetzung unbekannter Autoren, der Coup mit dem US-Shooting-Star Jonathan Franzen, der Nobelpreis: Das kann nicht alles nur Glück sein.

Ansonsten ist die Stimmung katastrophal. So etwas habe er seit 38 Jahren, seit Gründung seines Verlags, nicht erlebt, sagt Klaus Wagenbach, der Herold der unabhängigen Kleineren. Die Umsatzeinbußen sind fast überall beträchtlich, und die Auguren sind sich noch nicht ganz im Klaren darüber, wie viel das mit der Euro-Umstellung zu tun hat und Einbrüchen, die vorübergehend sind und nicht von Dauer. Am stärksten trifft es anscheinend vor allem solche Häuser, die bei dem großen Hype um Lizenzen und Bestseller-Verdachtsmomente mitpokern. Auch dieses Jahr war von einem ominösen Manuskript aus den USA die Rede, von dem nur ein paar Dutzend Seiten existieren und dessen Einstiegspreis bei der Auktion 200000 Dollar war: Es finden sich immer noch deutsche Verlage, die sich solche Optionen auf eine Chance nicht entgehen lassen wollen.

Auf der anderen Seite gibt es die Erfolgsgeschichten von Diogenes oder Kunstmann, unabhängigen Verlagen, die ein unverwechselbares Profil entwickelt haben und vergleichsweise hervorragend dastehen. Und für den Hanser-Verlag war das Jahr 2001 das umsatzstärkste Jahr der gesamten Verlagsgeschichte: Das ist antizyklisch und offenkundig nicht trotz, sondern wegen des streckenweise anspruchsvollen Programms kein Zufall. Eine Qualitätsmarke zu sein, ist plötzlich wieder gut für das Marketing. Am Rand der Messehalle hatte auch Sigrid Löffler eine kleine Nische für ihre Zeitschrift „Literaturen“ aufgebaut. Sie ist guter Dinge, die verkaufte Auflage steigt (und liegt jetzt bei 40000); „Literaturen“ profitiert offensichtlich von der Krise der Feuilletons.

Literatur ist schon immer die Sache einer Minderheit gewesen, daran hat sich nie etwas geändert. In Zeiten der Krise bröckeln die Ränder ab, und die Minderheit besinnt sich auf das Wesentliche. Ein hoffnungsvolles Indiz könnte in diesem Herbst sein, dass der komplexe und nicht von vornherein eingängige Roman von Ernst-Wilhelm Händler, „Wenn wir sterben“, für die Kritik das deutschsprachige Buch der Saison geworden ist. Das hatte eigentlich niemand auf der Rechnung. Es wäre zu kurz gegriffen, Händler als Zeichen für eine neue Ernsthaftigkeit zu sehen: seine Romane stellen sich der Gegenwart aber in all ihren Facetten und Formen, sie setzen nicht auf einen Trend. In „Wenn wir sterben“ steht die zeitgenössische Ökonomie im Zentrum, es geht um aktuelle Bewusstseinsstrukturen und Erkenntnistheorien, und dabei gibt es mehr Fragen als Antworten. Händlers Romane erscheinen in der Frankfurter Verlagsanstalt, die von Joachim Unseld, dem Sohn des großen Siegfried, geleitet wird: und dass er unbeirrbar, allen äußeren Widrigkeiten zum Trotz, seit Jahren an diesem Autor festgehalten hat, scheint sich jetzt auszuzahlen.

Es gibt auch eine Privatwohnung von Joachim Unseld, und es gibt auch seinen Buchmesseempfang dort. Es gibt viele Ähnlichkeiten mit der Tradition des Suhrkamp-Verlags, bis hin zur kurzen Lesung eines Autors der Saison, der diesmal selbstverständlich Ernst-Wilhelm Händler war. Aber programmatisch ist bei Joachim Unseld das „Open End“, und Händler kann noch spät in der Nacht seine Poetik vorstellen, seinen ästhetischen Entwurf, der abseits der saisonalen Moden existiert. Können Bücher heute nur noch durchgesetzt werden, wenn sie zu einem Label werden wie „adidas“ und dem Konsum zu einer temporär wechselnden Identität verhelfen, oder existiert daneben etwas, das sich um die jeweils angesagten Theorien gar nicht schert? Händlers Erfolg bei der Kritik beanwortet diese Frage zur Zeit immerhin mit einem Unentschieden.

Woran kann man sich halten? Am Eingang der Buchmesse wurden am Wochenende, wenn auch das große Publikum Eintritt in die Messehallen bekommt, große Papiertüten verschenkt, von einer zentralen Antiquariatsadresse. Diese Tüten wollten natürlich in Gebrauch sein – und dass sie sich im Lauf der Zeit mit einschlägigen Büchern füllten, die nicht ganz legal von den Verlagsständen entwendet wurden, lag nahe. Nicht nur daran sieht man: Es gibt nach wie vor ein grassierendes Interesse an Büchern.

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