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Literatur: Lob des Spitzahorns

Es ist nicht das erste Mal, dass wir ihm Entdeckungen von Übersee verdanken. Hans Magnus Enzensberger hat einen Geistesverwandten übersetzt: Stanley Moss.

Die Sprache der Bibel sei die Ursprache der Menschheit, hatte Johann Gottfried Herder vor 250 Jahren postuliert, im Reichtum ihrer Bilder und Geschichten lagere der Vorrat aller Poesie. Kein Wunder, wenn ein amerikanischer Dichter heute noch einen „Brief an Noah“ oder „Der Messias kommt nach Venedig“ in Gedichten imaginiert, die nichts mit neureligiöser Dämmerung, viel aber mit dem Reiz poetischer Bilder zu tun haben.

„In unserer neuen Gesellschaft sind all die alten Orden und Titel / der Religionen wie Eiskremsorten: Rabbis, Priester, Mullahs, Gurus, / Buddhisten, Schiiten, Sunnis, Dominikaner, Kapuziner, / Franziskaner, Karmeliter – Eis am Stiel. Nie zuvor / standen den Kindern so viele Sorten zur Wahl, / nie zuvor waren die Zehn Gebote so kühl im Sommer“, heißt es da in bester Tradition einer Aufklärung, die alte Metaphern nicht auf den Müll wirft, sondern sie zu Neuem transformiert. Erkenntnisgewinn durch die plötzlichen Kongruenzen und den Einfallsreichtum der sprachlichen Bilder, Sinnlichkeit statt Dogmatismus – das könnte als Devise gleichermaßen über den Gedichten des 1925 geborenen Amerikaners Stanley Moss wie seines deutschen Übersetzers Hans Magnus Enzensberger stehen.

Es ist nicht das erste Mal, dass wir Enzensberger Entdeckungen von Übersee verdanken, die sich sowohl für sein eigenes Schreiben als auch für die Literaturgeschichte als fruchtbar erwiesen: Er war es, der Anfang der 60er William Carlos Williams den Weg in die deutsche Lyrik ebnete, der 30 Jahre später die Gedichte von Charles Simic übertrug und sich an Wallace Stevens’ Zyklus „The man with the blue guitar“ wagte. Nun also der hierzulande noch unbekannte Stanley Moss mit einer Werkschau von Gedichten, die man nicht anders als originell nennen kann, ohne dass sie sperrig oder verstiegen wären – es sind Gedichte, mit denen man sich an regnerischen Herbstabenden verproviantieren, mit denen man beschwingte Spaziergänge unternehmen kann, ohne einen Schritt vor die Tür zu tun. Das dürftige Wetter bleibt im Blick, aber man geht mit weit aufgespanntem bunten Schirm hindurch.

Enzensbergers Übersetzungen liefern das Pendant zu den Originalen – kongenial in ihrer Leichtigkeit, ihrer idiomatischen Eleganz, ohne artistische Leuchtfeuer abbrennen zu müssen. Oft wirken die amerikanischen Verse Enzensbergers eigener Schreibe so verwandt, dass es scheint, beide führten einen Dialog miteinander. Etwa „Lenin, Gorki und ich“. Da reisen die drei Genannten durch Italien, delektieren sich an den Frauen, bis Lenin eine neue Doktrin einführt: „,Eine gute Bolschewikin erkennt ihr daran, / dass ihre Unterwäsche stets frisch ist.’ // Damals habe ich Schluss gemacht mit der Partei (…) weil ich sie unbedingt anfassen, schmecken, / riechen musste, die Fraun von den Inseln am Golf von Neapel.“

Bei allem Interesse an Weltverbesserern lassen sich die Dichter lieber von den Reizen einer konkreten Welt verführen, preisen den „Rotz“, die Hüte Fernando Pessoas oder „Die Geschichte der Farben“; mehr als zu Lehrsätzen der Logik fühlen sie sich zu den Widersprüchen naturwissenschaftlicher Empirie hingezogen: „Ich versuche die Sprache des Spitzahorns / zu erlernen, die schwerer ist als Chinesisch. / Aberhundert Worte hat er für grün, / gelb, golden, rot“ („Sag mir, meine Schöne“). Am Ende greift Poesie zu den ältesten Metaphern, um die ursprünglichsten Dinge neu zu sagen. So heißt es im „Wolkenlied“: „Proletarische Wolken führen wilde Ehen / über den Kartoffeläckern. Hoch, weiß und schön / pudern sie über den Bäumen, pressen ihre Gesichter / aneinander. Wolken mit dunkleren Schenkeln / rollen über den Atlantik.“

Stanley Moss: Gedichte.

Aus dem amerikanischen Englisch von Hans Magnus Enzensberger. München: Hanser 2010 128 Seiten, 14,90 €, erscheint am 6. September

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