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Inselgefährten in der Not. Robinson und Freitag. Illustration von 1875.

© picture alliance / Everett Colle

Literatur: Robinson lebt hier nicht mehr

Was ist literarische Zeitgenossenschaft? Ulrich Peltzers herausragende Frankfurter Poetikvorlesungen misstrauen dem realistischen Roman und suchen nach einer Syntax der Gegenwart

Von Gregor Dotzauer

Was in der Kunst noch erlaubt ist und was nicht mehr, lässt sich nicht in Kategorien des Fortschritts messen. Wie oft ist das Ende der Malerei ausgerufen worden, und wie gegenständlich haben sich ernst zu nehmende Künstler der konzeptuellen Übermacht mit Pinsel und Farbe widersetzt. Wie hartnäckig haben Schriftsteller den Sinn linearen Erzählens bezweifelt, und wie schwer lässt es sich der Prosa austreiben. Wie zerstörerisch sind Komponisten mit den tonalen Resten der westlichen Musik umgesprungen, und wie vital erheben Melodien ihr verführerisches Haupt. Kunst ist kein Hau-den-Lukas-Spiel, bei dem es nach einem gut ausgeführten Schlag am oberen Ende der Fortschrittsskala klingelt und die Anzeige aufleuchtet: Modernitätssoll erfüllt.

Was prinzipiell nicht geht, ist allerdings mangelndes Problembewusstsein. Die Totengräber des realistischen Romans, der Symphonie und des menschlichen Porträts haben nicht grundlos gewisse Formen für überholt erklärt – nämlich da, wo sie zur Formel und zur Konvention gerinnen. Eine Gefahr, der Avantgarden aller Art bekanntlich als Erstes erliegen. Auch die Arglosigkeit, mit der manche übersehen, dass jede Erzählhaltung, so zeitlos sie anmuten mag, einer bestimmten Epoche entspringt und jeder Affekt, so tief und durchdringend er empfunden wird, einen historischen Index trägt, gehört bestraft.

Wenn Ulrich Peltzers Frankfurter Poetikvorlesungen das Niveau definieren, auf dem man hierzulande über Literatur nachdenken kann, so rutschen neunzig Prozent dessen, was heute in deutscher Sprache geschrieben wird, unter dem Anspruch, der daraus entsteht, hindurch. So wenig Zeitgenossenschaft ein Sport ist und der Jahrmarktshammer ein ästhetisches Argument: Viele wissen nicht einmal, wie man zum Schlag ausholt.

Wenige Schriftsteller seiner Generation haben so ehrgeizig gegen den „Terror der Behaglichkeit“ angeschrieben, der aus geschlossenen Erzählformen erwachsen kann – und dann bewiesen, dass auch ein maßvoll zersplittertes realistisches Erzählen, wie es der 54-Jährige in dem Politroman „Teil der Lösung“ übte, etwas von der Gegenwart in den Blick bekommt. Vor den poetologischen Forderungen, die sich aus seinen Essays als aktueller Inhaber dieser seit dem Wintersemester 1959/60 an der Goethe-Universität bestehenden und mit Ingeborg Bachmann begonnenen Gastdozentur ergeben, wäre er damit wohl selbst gescheitert. Doch man würde „Angefangen wird mittendrin“ missverstehen, wenn man es als reines Programm neben sein Werk halten wollte. Wie Uwe Johnsons „Begleitumstände“ sind diese Vorlesungen unmittelbarer Teil des Werks.

Ulrich Peltzer.
Ulrich Peltzer.

© Doris Spiekermann-Klaas

Anfang und Ende sind verknüpft wie ein Möbiusband, bei dem sich Außenseite und Innenseite nicht unterscheiden lassen. Was als theoretische Reflexion beginnt, läuft zugleich als erzählerische Fiktion mit. Man taucht ein mit einem Blick auf die Wortstrudel von James Joyces „Finnegans Wake“ und taucht auf in den Fetzen einer Geschichte, die von einem quer durch die Welt jettenden Manager und dessen Kreditnöten handelt – einer Skizze von Peltzers nächstem Roman oder zumindest einem Traum davon, wie „in irritierenden Hypotaxen, Sprüngen von einem Kontinent zum anderen, Epochen und Ereignisse unvermittelt kollidieren lassend“ die „Syntax einer Gegenwart“ entsteht, „die von sich selbst verschlungen zu werden droht“.

Der Übergang ist unmerklich. Das Dauerfließen dieser Prosa, ihre nach allen Seiten ausgreifende Beweglichkeit, die auch die analytischen Anteile bei aller denkerischen Präzision in langen und immer länger werdenden Sätzen davonträgt, ist nur noch in Ansätzen ein mimetisches Programm. Im Bewusstsein seiner Unmöglichkeit lotet Peltzer jene Grenze aus, die man früher oder später überschreiten muss. Joyce hat den Punkt, an dem aus einem narrativen Totalitätsanspruch zwangsläufig semantische Kakophonie entsteht, mit „Finnegans Wake“ ein für allemal markiert. Peltzer nun versucht, „die Geschichte als Geschichte zu retten (wiederzufinden), indem man den Verhältnissen ihre eigene Fall- und Zerfallsgeschichte erzählt, weil anders sie zu überwinden nicht in der Macht des Künstlers und der Kunst liegt“.

Wenn man bei ihm also von Abbildung der Gegenwart sprechen will, dann vor allem in dem Sinn, dass sich auch früher getrennte Wissens- und Erfahrungsbereiche ineinander abbilden lassen und wechselseitig erhellen. Peltzer glaubt auf den Spuren von William Gaddis’ epochalem Roman „JR“ mit Recht, dass die Idee des Geldes als „Medium aller Leidenschaften und Anstrengungen, zu denen ein Mensch fähig ist“ nicht nur psychologischen Erzählstoff abgibt, sondern ihrem spekulativen Wesen nach literarische Umrisse hat. „Das Gespenst des Kapitals“, wie es der Berliner Germanist Joseph Vogl in seiner jüngsten Studie (Diaphanes Verlag) jagt, ist eine Erfindung, die den Ökonomen nicht weniger als den Geisteswissenschaftler und den Schriftsteller zu Interpretationen einlädt.

Das Möbiushafte von „Angefangen wird mittendrin“ erklärt auch, warum sich Peltzer nicht ausdrücklich mit seinen vorangegangenen Romanen beschäftigt: Er kann nicht den Erkläronkel für Bücher spielen, die sich der Hierarchie von Werk und Kommentar, Haupt- und Nebentext entziehen. „Bryant Park“ etwa lebt davon, dass in die autobiografische Fiktion eines New-York-Aufenthalts die Nachricht von der Zerstörung der Twin Towers hineinplatzt und den Autor aus der erzählerischen Bahn wirft. Und der Roman „,Alle oder keiner’“ schreibt in seinem kamerakühl objektivierten Gleiten durch Berliner Topografien und Befindlichkeiten das erkennbar Subjektive in einem Maß heraus, dass es absurd gewesen wäre, es nun nachträglich wieder hineinzuschreiben.

Nur ist es dadurch nicht auf Dauer vor die Tür eskamotiert. Der Literaturtheoretiker, der in seinen Vorlesungen das „Drama der Subjektivierung“ in drei entscheidenden Schritten von Daniel Defoes „Robinson Crusoe“ über Mark Twains „Huckleberry Finn“ bis zu James Joyces „Ulysses“ schildert, tritt nämlich durchaus in eigener, das heißt: letztlich autobiografischer Sache auf.

Er mag sich als eingefleischter Leser des „Anti-Ödipus“ mit einem Zitat von Gilles Deleuze wappnen, das ihm stabile Zuschreibungen von Identität vom Leibe hält: „Es ist die dritte Person, die man analysieren muss. Man spricht, man sieht, man stirbt. Ja, es gibt Subjekte, aber es sind tanzende Partikel im Staub des Sichtbaren und wechselnde Plätze in einem anonymen Gemurmel. Das Subjekt ist immer eine abgeleitete Funktion.“ Zugleich scheint hier ein gezeichnetes Ich auf, das seine Umrisse sehr wohl kennt. Denn das Subjekt ist im Spannungsfeld von Selberdenken und Gedachtwerden das ewige Stehaufmännchen.

Man mag es etwa mit Hilfe der Psychoanalyse immer wieder aus seiner eingebildeten Zentralität verbannen, in den Geschichten des „So bin ich“ und „So bin ich geworden“ kehrt es stets dorthin zurück. Auch Peltzers antiödipale Sehnsucht nach einem „mitreißenden Aufbruch ins Fremde, ins Unbekannte, in die Unordnung des Umsturzes von Verhältnissen, die dem lebendigen Leben die Luft abschnüren“ lebt von ödipalen Strukturen, im Grunde von den ältesten: der Rebellion gegen den Vater. Wo er bei Robinson Crusoe und dessen realem Vorbild Alexander Selkirk darauf hinweist, dass hier einer strandete, der sich gegen den Rat des Vaters auf weite Fahrt begab, kann er es sich nicht versagen, in einem jener eingeklammerten Ex-tempore-Einschübe, die das Buch durchziehen, anzudeuten, dass auch er gegen das Gesetz dieser Instanz rebellieren musste.

All die Fluchtlinien, die er beschwört, die „Flucht vor der Flucht“, die einen an die „Ränder von Code und Territorium“ bringen soll, können nicht verdecken, dass sich hier jemand zwar nicht wie ein kleiner Junge, aber als gestandener Mann mit Huckleberry Finn identifiziert.

Der fortwährende Versuch, widersprüchliche Energien und Ordnungen gegeneinander in Stellung zu bringen, macht die besondere Spannung dieses Buches aus, in dem das Mikropolitische mit dem Makropolitischen ringt und das logisch Ausgezirkelte von Spinozas „Ethik“ mit den streams-of-consciousness von Virginia Woolf und William Faulkner.

Das unvermeidliche Zauberwort des letzten Kapitels heißt Entropie, jenes der Thermodynamik entliehene Maß für die wachsende Unordnung der Elemente in geschlossenen Systemen. Gesellschaften aber und ihre künstlerischen Hervorbringungen sind offene Systeme. Auf jede Entgrenzung reagieren sie mit Eingrenzung. „Die Muse der Musen – nicht vom Menschen ersonnen, sondern real vorhanden – ist die Entropie“ hat der russische Biophysiker und Universalgelehrte Michail W. Wolkenstein einmal geschrieben.

„Alles, was diese Welt von einem grauen, homogenen Chaos unterscheidet, entstand und existiert dank dem Export von Entropie in das umgebende Medium. Von negativer Entropie lebt alles Lebende und alles vom Leben Hervorgebrachte – so auch Wissenschaft und Kunst.“ In Ulrich Peltzers Poetikvorlesungen sind die Geschenke dieser Muse glücklich aufgegangen.

Ulrich Peltzer: Angefangen wird mittendrin. Frankfurter Poetikvorlesungen. S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2011. 173 Seiten, 17,95 €

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