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Meister des autofiktionalen Erzählens. David Wagner schrieb zuletzt „Der vergessliche Riese“.

© Linda Rosa Saal

Literatur und Demenz: Glücklich im verblassenden Gestern

In "Der vergessliche Riese" erzählt der Berliner Schriftsteller David Wagner von der Demenzerkrankung seines Vaters.

Wohin die Reise denn gehe, fragt der Vater. Nach Bayreuth, antwortet der Sohn. Sie sitzen gemeinsam im Auto, und der Vater staunt darüber, dass der Sohn noch Karten für die Festspiele bekommen habe. Früher war der alte Wagner-Fan regelmäßig in Bayreuth; als Kind ist er dort selbst als Zwerg über die Bühne gehüpft.

Nun aber muss der Sohn ihn enttäuschen: Es geht nicht zu „Rheingold“ oder „Tristan“, sondern zur Beerdigung von Tante Hilde. Der Vater hat es vergessen, und er wird es zehn Minuten später wieder vergessen haben. „Weißt du, Freund“, sagt er zum Sohn, „ich vergesse alles. Ich schreibe mir Sachen auf, damit ich sie nicht vergesse – und dann vergesse ich, dass ich sie aufgeschrieben habe. Es ist, wie Tante Gretl gesagt hat: Die Dublany sind intelligent, im Alter aber werden sie alle blöd.“ Die Dublany sind die Vorfahren des Vaters mütterlicherseits, und der Satz, der das Verhängnis erklären soll, wird noch oft wiederkehren in diesem Buch. Er wird zur Formel, zum Running Gag.

Der Berliner Schriftsteller David Wagner, 1971 in Andernach geboren, hat vor sechs Jahren für sein Buch „Leben“ den Preis der Leipziger Buchmesse bekommen. Darin ging es um die Darstellung seiner eigenen Leber-Erkrankung, die schließlich eine Transplantation notwendig machte.

Nun hat Wagner ein wiederum sehr autobiografisches Werk geschrieben, das wie „Leben“ auf die Genrebezeichnung Roman verzichtet. Wieder geht es um eine Krankheit, diesmal allerdings eine, unter der nicht der Erzähler selbst leidet, sondern dessen Vater.

Die Demenz ist in den letzten Jahren zu einem großen Thema der Literatur geworden. Autoren berichten in autobiografischen Texten vom Niedergang ihrer Väter oder Mütter. Jonathan Franzen hat den Essay „Das Gehirn meines Vaters“ verfasst, Arno Geiger viele Leser mit seinem Vater-Buch „Der alte König in seinem Exil“ angerührt, Burkhard Spinnen mit „Die letzte Fassade“ ein beeindruckend ehrliches Buch über die Demenz seiner Mutter geschrieben, das auf jede Poetisierung oder literarische Überhöhung der Krankheit verzichtet – um nur drei Werke zu nennen.

Pflege und Überforderung

Gemeinsam ist ihnen, dass die Demenzkranken und ihre Verfallssymptome zum Objekt der Beobachtung und Erklärung werden und dass die Schriftsteller-Söhne vor allem auch davon erzählen, wie die Krankheit der Eltern ihr eigenes Leben verändert hat, wie sie sich von den Aufgaben der Fürsorge und Pflege herausgefordert und oft überfordert fühlen.

David Wagner macht es nun ganz anders. Er hält sich mit beschreibenden und erklärenden Passagen zurück. Der Vater, Anfang 70, ist weniger Objekt der Beobachtung, sondern sprechendes Subjekt. „Der vergessliche Riese“ besteht fast nur aus Dialogen; zum größten Teil Gespräche zwischen Vater und Sohn.

Letzterer heißt auch im Buch David, lebt in Berlin und besucht den kranken Vater regelmäßig im Rheinland. Die Handlung ist davon bestimmt, dass Erinnerungsreisen zu Orten der Familiengeschichte unternommen werden und die erstaunlich zahlreichen Familienangehörigen immer wieder bei Beerdigungen zusammenkommen.

Das Aufzeichnen der kreisenden Dialoge mit einem Demenzkranken ist Wagner vorzüglich gelungen. Was Angehörige oft zur Verzweiflung treibt, liest sich hier jedoch heiter, fast komödienhaft. Mit beneidenswerter Ruhe antwortet der Sohn auf die immer gleichen Fragen des Vaters, fast nie verliert er die Contenance. Die Krankheit bestimmt in diesem Buch also die Erzählweise.

Selbstverständliches, das nicht mehr selbstverständlich ist

Während es sonst unglaubwürdig und wenig gekonnt wirkt, wenn sich Figuren über Dinge verständigen, die der Leser erfahren soll, über die sie selbst aber eigentlich so genau Bescheid wissen, dass ihre Erwähnung nicht plausibel ist – etwa: „Du weißt ja, du hast Volkswirtschaft studiert, in Bonn gearbeitet, und deine zweite Frau Claire ist kürzlich gestorben“ –, haben solche Vergewisserungen im Fall der Demenz einen ganz anderen Charakter: Der Betroffene weiß es im Moment ja wirklich nicht mehr. Hier geht es um ein hintergründig legitimiertes Erzählen des Selbstverständlichen, das nicht mehr selbstverständlich ist.

„Ich muss ja schwer auszuhalten sein, dass die Frauen mir immer wegsterben“, antwortet der Vater regelmäßig, wenn ihm der Sohn sein doppeltes Witwertum in Erinnerung ruft. „Eigentlich ist es ganz angenehm mit dir. Oft sogar lustig“, antwortet der Sohn. Was den Umgang mit diesem alten Herrn tatsächlich so angenehm macht, ist der Umstand, dass er sich seines Vergessens sehr bewusst ist, es auch immer wieder bedauernd eingesteht.

Er ruft nie verärgert „Du denkst wohl, ich bin blöd!“, wenn der Sohn seiner Erinnerung aufzuhelfen versucht. So wird das ständige Wiederholen als Wieder-Holen zu einem beinahe mythischen Ritual, bei dem sich auch der als „alter Freund“ angesprochene Sohn seiner Hintergründe und Herkunftsgeschichten versichern kann.

Obwohl der Umzug aus dem eigenen Haus in ein nobles Pflegeheim mittels einer sorgfältig eingefädelten Intrige bewerkstelligt wird, nimmt es der Vater seinen Kindern nicht übel.

Nähe zum Wohlfühlfilm

Kein Schreien und Aufbegehren, keine Vorwürfe und Tränen. Vielmehr findet er sich sofort mit den neuen Umständen ab. Und fühlt sich ausgesprochen wohl im Heim am Rhein. Da droht das Buch bisweilen doch in die Nähe eines Primetime-Wohlfühlfilms zu geraten: schöne Landschaften, Augenschmaus-Villen, ein feinsinniger, immer noch wie ein italienischer Schauspieler aussehender alter Herr, dessen Verwirrtheit uns menschenfreundlich schmunzeln lässt, und dazu der Wohlstand altbundesrepublikanischen Bildungsbürgertums.

Umschwärmt von den Seniorinnen sitzt der Vater im Park des Heims wie ein weiterer König in seinem Exil – und hält als Zepter die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ in Händen. Gelegentlich singt er Passagen aus Richard Wagners „Walküre“ oder blättert in wertvollen Kunstbänden. „Schau dir diese Bilder an, Freund! Liebermann ist so ein fantastischer Maler!“, schwärmt er, um im nächsten Moment zu murmeln: „Wer hat das gemalt? Das ist ja fantastisch!“

Die typischen Wut- und Frustemotionen dagegen, die mit dem Erleben der eigenen Unzulänglichkeit verbunden sind, das paranoide Misstrauen, das so kennzeichnend für die Demenz ist, die wie aus dem Nichts hervorschießenden Vorwürfe und Unterstellungen gegenüber den Angehörigen – all das spart Wagner fast völlig aus. Sein Vater verliert vieles, aber nicht den Charme, nicht die Kultiviertheit. Indessen schreitet die Demenz auch hier voran, bis der Vater am Ende den Sohn in manchen Momenten nicht mehr erkennt.

Großvater mit 56 - eine Zumutung

Wenn die Krankheit positive Nebenwirkungen hat, dann bestehen sie im Wiedererstarken des familiären Zusammenhalts. Zwei Jahrzehnte hat der Erzähler wenig Kontakt zum Vater gehabt. Es gab Kränkungen, insbesondere die, dass der Vater so sehr mit seiner erfolgreichen Unternehmensberatung beschäftigt war, dass er die Geburt der Tochter des Sohnes eher als Störung empfunden hat: Großvater mit 56 – eine Zumutung für einen 1943 geborenen Vertreter der 68er-Generation, die als erste eine Art Berufsjugendlichkeit für sich in Anspruch nahm, nachdem sie sich von den Nazi-Eltern im moralischen Triumph abgegrenzt hatte.

Die Großeltern hatten sich noch in einträchtiger Führer-Begeisterung beim Nürnberger Reichsparteitag kennengelernt, und dem Großvater wurde, wiederum in Nürnberg, der Prozess gemacht. Auf dieser Ebene liest sich das Buch als raffiniert erzähltes, in Erinnerungsfragmenten dargebotenes Großfamilienpanorama über drei Generationen. Als Porträt der Aufstiegsgesellschaft der Bundesrepublik im Modus des Abstiegs, des Zerfalls. „Der vergessliche Riese“ ist mehr als nur die beeindruckend leichthändige Darstellung einer schweren Erkrankung.

David Wagner: Der vergessliche Riese. Rowohlt, Hamburg 2019. 272 S., 22 €. – Im Rahmen des Internationalen Literaturfestivals führt David Wagner am Sonntag, den 15. 9., um 20 Uhr im Collegium Hungaricum Berlin (Dorotheenstr. 12, 10117 Berlin) ein Gespräch mit dem Berliner Arzt und Publizisten Michael de Ridder über „Die Sprachen der Krankheit“, in dem es um den Wert der Literatur für die Medizin geht.

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