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Tahar Ben Jelloun, 1944 im marokkanischen Fès geboren, lebt als Schriftsteller in Paris. Er gilt als eine der bedeutendsten frankophonen Stimmen des Maghreb. Im Berlin Verlag erschien zuletzt sein Roman „Zurückkehren“.

© DENIS/REA/laif

Literatur und Rebellion: "Islamismus ist eine Form der Gleichschaltung"

Der arabische Frühling markiert den wahren Beginn der Moderne, sagt der marokkanische Autor Tahar Ben Jelloun. Im Tagesspiegel-Interview spricht er über die Niederlage des Islamismus - und übt Kritik an Angela Merkels Libyen-Politik.

Monsieur Ben Jelloun, täuscht der Eindruck oder sind Sie stolz auf die Umwälzungen in der arabischen Welt?

Ich wäre sehr stolz, wenn es mein Verdienst wäre. Aber ich habe nicht in Kairo demonstriert. Ich würde eher sagen, ich war zutiefst erschüttert, zu sehen, wie Millionen von Menschen auf die Straße gegangen sind und universelle Werte eingeklagt haben. Die arabischen Völker hatten resigniert, und auf einmal sind sie aufgewacht und haben eine Demokratiebewegung begonnen, die nicht mehr rückgängig zu machen ist.

In ihrem Buch „Der arabische Frühling“ schreiben Sie, die größte Errungenschaft dieser Revolte sei die Autonomie des Individuums. Wie war das möglich in diesen extrem tribalistischen Gesellschaften?

Das ist die zentrale Frage. Es ist ein radikaler Wechsel innerhalb der arabischen Gesellschaften und der wahre Beginn der Moderne. Wer in Zukunft zur Wahl geht, gibt seine Stimme ab, nicht die seiner Familie oder seines Stammes. Ich würde sogar behaupten: Die Autonomie des Individuums hat zur Niederlage des Islamismus beigetragen. Denn was ist der Islamismus? Eine Form der Gleichschaltung.

Haben uns die arabischen Diktatoren die ganze Zeit nur etwas vorgemacht?

Wir haben die Gefahr des Islamismus jedenfalls überschätzt. Die Islamisten waren intelligent genug, die Weltmedien zu beherrschen. Jedes Mal, wenn ein Attentat stattfand, hatten sie alle Titelseiten. Am Ende war der Islamismus allgegenwärtig, und man hatte das Gefühl, Mubarak und Ben Ali waren die Trutzburg gegen die Extremisten.

Müssen Sie sich als Schriftsteller nicht das traurige Eingeständnis machen, dass es nicht die alten Medien waren, die den Siegeszug des Individuums ermöglicht haben, sondern die neuen sozialen Medien?

Ich würde nie bestreiten, dass die sozialen Medien entscheidend waren, aber wir haben die Tendenz, ihre Rolle zu überschätzen und die der alten runterzuspielen. In Tunesien gab es keine freie Presse, aber dank des Internets konnten sich die Tunesier in der Auslandspresse auf dem Laufenden darüber halten, was in ihrem Land geschah. In Wahrheit handelt es sich um ein komplexes kulturelles Zusammenspiel.

"Die Unterdrückungsmechanismen waren stärker als wir." Lesen Sie auf Seite zwei, wie arabische Autoren mit der Situation in ihren Ländern umgingen.

Gab es Romane, die die Ereignisse in gewisser Weise angekündigt haben?

Es handelt sich eher um eine Stimmung. Jedes Mal, wenn arabische Intellektuelle bei einer Konferenz zusammenkamen, herrschte dieselbe Atmosphäre. Ich erinnere mich, als die arabische Welt 2004 Ehrengast der Frankfurter Buchmesse war, dass die Debatten immer von einer Art Galgenhumor geprägt waren. Wir machten uns über uns selbst und den Zustand der arabischen Welt lustig, weil es anders gar nicht zu ertragen war. Wir schrieben unsere Bücher, aber das änderte nichts am deprimierenden Gang der Dinge. Die Unterdrückungsmechanismen waren stärker als wir.

Literatur ist also machtlos?

Literatur hat niemals direkten Einfluss auf die Geschichte. Aber wenn man sich anschaut, was in den letzten 20 Jahren in der arabischen Welt an Büchern veröffentlicht wurde, dann spürt man den Wunsch, Zeugnis abzulegen. In Ägypten sind in zahlreichen Romanen die Korruption und der Islamismus thematisiert worden. In der Literatur Tunesiens war der Terror latent spürbar. Auch das, was sich in diesem Frühling ereignet hat, wird zweifellos in die Literatur einfließen.

Wie in „Par le feu“, Ihrer kurzen Erzählung über die Selbstverbrennung eines Gemüsehändlers. Sie erwähnen seinen Namen nicht, aber es handelt sich natürlich um Mohammed Bouazizi, der sich am 17. Dezember mit Benzin übergossen hat ...

Mohammed ist das Beispiel für jemanden, der mit seiner Geduld am Ende war. Als Literat hat mich interessiert, wie man dermaßen gedemütigt werden kann, dass man sich auf so brutale, aber symbolische Weise selbst tötet. Es handelt sich um einen einfachen, glasklaren Text, den sogar Kinder lesen können.

Literatur als Gedächtniskultur?

Ja. Eines Tages müssen wir die Namensliste derer machen, die während dieser Wochen mit ihrem Leben bezahlt haben.

Ben Jelloun übt Kritik an Israel wegen seiner "permanenten Kolonialisierung" und "Rassismus". Lesen Sie weiter auf Seite drei.

Wir beurteilen Sie die Rolle von Bernard-Henri Lévy, der dafür kritisiert wurde, dass er sich als Intellektueller in die Weltpolitik eingemischt hat?

Lévy handelt nach Instinkt, und sein Instinkt funktioniert. Im Fall Libyens ist sein Verdienst enorm. Niemals wäre ich nach Bengasi gefahren, um die Rebellen zu treffen. Andererseits muss man ihn fragen, warum er sich für die Palästinenser nicht ebenso stark macht. Die palästinensische Frage ist unser großer Streitpunkt.

Lévy ist Jude. Und es ist gut nachvollziehbar, dass sich die Israelis vor den Unwägbarkeiten fürchten, die der arabische Frühling mit sich bringt.

Die Israelis fürchten gar nichts. Sie verteidigen sich jedes Mal auf derart brutale Weise, dass sie wirklich keine Angst haben müssen. Natürlich sehen sie ungern, dass die arabische Welt plötzlich Zugang zur Demokratie hat. Sie waren immer stolz, die einzige Demokratie in der Region zu sein.

Ihrer Ansicht nach droht Israel also keine Gefahr?

Die Gefahr für Israel ist Israel selbst. Seine Politik der permanenten Kolonialisierung, sein Rassismus. Die israelische Gesellschaft ist dabei, zu explodieren. 400 000 Menschen gehen in diesem kleinen Land auf die Straße. Mit anderen Worten: Der arabische Frühling ist in Israel angekommen.

In Tunesien sehen wir, dass Freiheit allein nicht reicht: 70 Prozent der jungen Tunesier wollen ihr Land so schnell wie möglich verlassen.

Die jungen Leute sind verständlicherweise ungeduldig. Sie wollen die Veränderung, und zwar sofort. Wer keine Arbeit hatte, soll jetzt Arbeit haben. Wer 100 Euro verdient hat, soll jetzt 200 bekommen. Das ist unweigerlich mit Enttäuschungen verbunden.

Sie appellieren tatsächlich an die Geduld derjenigen, die ihr Leben riskiert haben?

Mir ist schon klar, dass das nicht sehr sexy ist. Wie soll man einem jungen Menschen von 26 Jahren sagen: Gedulde dich noch ein Jahrzehnt! Aber es wird nun mal keine Wunder geben. Die Revolte war notwendig. Nur kann sie nicht die Probleme regeln, die ein halbes Jahrhundert der Unfreiheit angerichtet hat. Viel wird von den Politikern abhängen, die jetzt ans Ruder kommen. Anders als bei Revolutionen ist bei Revolten nichts geplant.

Angela Merkel hat von allem, was über die jüdisch-christliche Sphäre hinaus geht "keinen Schimmer". Lesen Sie weiter auf der nächsten Seite.

Die Stärke des arabischen Frühlings, die Tatsache, dass er keine politischen Führer und keine Ideologie hatte, könnte ihm jetzt also zum Verhängnis werden?

Absolut. Aber ich ziehe es vor, mit diesem Problem fertig zu werden, als weiterhin unter einer unmenschlichen Diktatur leiden zu müssen. Demokratie ist möglich in der muslimischen Welt.

Sie sprechen von einem unumkehrbaren Prozess. Aber für Länder wie Syrien ist noch nichts entschieden.

Nicht einmal in Syrien lässt sich die Uhr zurückdrehen. Baschar al Assad ist ein Verbrecher und Mörder, der unbewaffnete Bürger umbringen lässt. Auch er ist in einer Sackgasse.

Wird das von der EU beschlossene Ölembargo sein Ende beschleunigen?

Assad wird seinen Platz nicht freiwillig räumen. Er wird weiter sein Volk massakrieren. Alles liegt jetzt in der Hand der Armee. Es könnte sein, dass ein General beschließt, Assad zu beseitigen, um das Regime zu retten. Syrien ist sicher der interessanteste Fall im Augenblick, weil die Situation so aussichtslos scheint. Wie bei seinem Vater Hafis al Assad schaut die zivilisierte Welt weiter zu.

Dem Karikaturisten Ali Farzat haben Assads Schergen die Hände gebrochen. Der Sänger und Liedermacher Ibrahim Qashoush ist regelrecht abgeschlachtet worden, man hat ihm die Kehle aufgeschlitzt und die Stimmbänder herausgerissen ...

Was den Horror betrifft, ist das syrische Regime nicht zu übertreffen. Im April wurde ein 13-Jähriger über Tage gefoltert, weil er „Weg mit dem Regime!“ skandiert hatte. Man hat ihn mit Elektroschocks gequält, Verbrennungen zugefügt, das Geschlecht abgeschnitten und am Ende mit drei Kugeln erschossen. Es sind Ratten, die so etwas machen.

Deutschland hat sich enthalten bei der Abstimmung des UN-Sicherheitsrates, in Libyen zu intervenieren. Wie beurteilen Sie diese Entscheidung?

Das hat mich persönlich enttäuscht. Angela Merkel hat offensichtlich keine Vorstellung, worum es in Syrien oder Libyen geht. Sie mag sehr kompetent in Sachen Europa sein, aber von allem, was über die jüdisch-christliche Sphäre hinausgeht, hat sie keinen Schimmer.

Was würden Sie Frau Merkel sagen, wenn Sie heute Abend eine spontane Einladung ins Kanzleramt bekämen?

Ich würde ihr raten, die arabische Literatur zu lesen und sich dafür zu interessieren, was in diesen Ländern passiert. Zweifellos gibt es Orientalisten in Deutschland, aber sie scheinen nicht in Merkels Beratungsstäben zu sitzen. Es wäre gut, wenn Deutschland jetzt mehr mediterrane Luft schnuppern würde. Die Geschichte spielt jetzt dort. Höchste Zeit, dass ich Madame Merkel treffe!

Das Gespräch führte Martina Meister.

Tahar Ben Jelloun, Jahrgang 1944, zählt zu den bedeutensten Autoren der französischsprachigen Literatur aus dem Maghreb. 1963 besuchte er die Universität Muhammad V in Rabat, wo er auch seine frühesten Gedichte verfasste. Nach dem Studium unterrichtete Jelloun Philosophie in Marokko, musste jedoch 1971 nach Frankreich emigrieren. Er promovierte 1975 in sozialer Psychiatrie, was sich seither in seinen Werken wiederspiegelt. Ab 1972 schrieb Jelloun regelmäßig für Le Monde und veröffentlichte zahlreiche Romane, unter anderem 1985 L’Enfant de sable. Die Fortsetzung, La Nuit Sacrée, wurde 1987 mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet. Damit war Jelloun der erste aus Nordafrika stammende Autor, der diesen Preis bekam. Sowohl L’Enfant de sable, als auch La Nuit Sacrée wurden bisher in 43 Sprachen übersetzt. Jelloun lebt mit seiner Frau und seiner Tochter, für die er einige pädagogische Bücher geschrieben hat, in Paris. Der Autor veröffentlichte 2011 das Werk Arabischer Frühling, in welchem er sich mit den Protesten in der arabischen Welt auseinandersetzt und für das er mit dem Erich-Maria-Remarque-Friedenspreis der Stadt Osnabrück ausgezeichnet wurde.

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