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Im Osten viel Neues. Reste des Kaufhauses am Brühl in Leipzig, wo schon bald die „Höfe am Brühl“ entstehen sollen.

© p-a/dpa

Literatur: Vom Winde gedreht

Es wurde auch Zeit: Westdeutsche Autoren entdecken den "wilden" Osten des Landes. Die deutsch-deutschen Differenzen sind selbst über zwanzig Jahre nach der Wiedervereinigung nicht so leicht zu überbrücken.

Glaubt man Moritz von Uslar, muss es betretene Gesichter und ein ratloses Schweigen gegeben haben, als er Freunden und Kollegen in seinem Lieblingsrestaurant in Berlin-Mitte verkündete: „Ich haue ab von hier, dorthin, wo kaum ein Mensch je vor uns war – nach Hardrockhausen, Osten, nordöstliche Richtung, nicht zu weit weg, vielleicht eine Stunde von Berlin entfernt (...), und nebenbei erfahre ich alles über des Prolls reine Seele, über Hartz IV, Nazirock, Deutschlands beste Biersorten und die Wurzel der Gegenwart.“

So beginnt Moritz von Uslar sein Buch „Deutschboden“ (KiWi), erschienen im Herbst 2010. Sicher hat er nicht im Traum daran gedacht, dass ein paar Monate später einige seiner Kollegen, die ebenfalls im Westen der Republik sozialisiert worden sind, ebenfalls den Osten entdecken sollten, dass er gar einen kleinen literarischen Trend setzen würde. Im Buch dauert es eine Weile, bis der 1970 in Köln geborene von Uslar den idealen Ort für seine Reportage über „des Prolls reine Seele“ im Osten der Republik gefunden hat: das sechzig Kilometer nördlich von Berlin im Landkreis Oberhavel gelegene Städtchen Zehdenick, das bei ihm aus Personenschutzgründen „Oberhavel“ heißt.

Den Leser irritiert zunächst das längliche Intro von „Deutschboden“. Von Uslar macht viel Aufhebens um seine Suche und erklärt zum Beispiel erst einmal, warum Eisenhüttenstadt nichts für ihn ist, oder wie er in Schwedt scheitert. Irritierend ist auch, wie er sich unentwegt stolz auf die Schulter klopft und betont, was für ein toller Hecht er ist. Oder dass ihn die ersten Stunden in Zehdenick „irre aufgewühlt“ haben.

Verortet man „Deutschboden“ jedoch in der deutschsprachigen Literatur nach 1989, wird verständlich, warum Moritz von Uslar das Besondere an seiner Zehdenick-Reportage so herausstreicht. Ja, dass dort, im „Wilden Osten“, vielleicht wirklich „kaum ein Mensch je vor uns war“. Über zwanzig Jahre nach dem Mauerfall zieht sich noch immer ein Graben durch die Literatur von Ost und West. Die in der DDR geborenen Autoren und Autorinnen bleiben bei der Wahl ihrer Sujets und Schauplätze weiterhin in Ostdeutschland, man denke nur an Ingo Schulze und Uwe Tellkamp, an Julia Schoch und Antje Ravic Strubel. Oder an die 1980 in Anklam geborene Judith Zander mit ihrem Roman „Dinge, die wir sagten“, der die Geschichte einiger Dorfbewohner in Vorpommern erzählt. Auch die in der alten Bundesrepublik groß gewordenen Schriftsteller halten treu an ihren Schollen fest, etwa die Popliteraten der neunziger und nuller Jahre, zu denen auch Moritz von Uslar gehört.

Der Literaturkritiker Richard Kämmerlings spricht in seinem kürzlich erschienenen Buch „Das kurze Glück der Gegenwart“ über die deutschsprachige Literatur seit ’89 von einer „deutschen Wiederentzweiung“. Dass sich die hiesige Literatur weiter in eine ostdeutsche und eine westdeutsche aufteilen lässt, fällt umso mehr auf, wenn in einer Saison im Gefolge von Uslar Romane von Autoren aus dem Westen erscheinen, die alle im Osten Deutschlands spielen oder deren Hauptfiguren eine DDR-Biografie haben: Wolfgang Herrndorf mit „Tschick“ (Rowohlt), Dirk Kurbjuweit mit „Kriegsbraut“ (Rowohlt) und Uwe Timm mit „Freitisch“.(KiWi)

Der 1965 in Hamburg geborene, in Berlin lebende Herrndorf schickt in seinem seit Monaten auf den Bestsellerlisten stehenden Roman „Tschick“ zwei Halbwüchsige mit einem gestohlenen Lada auf eine Reise in die rumänische Walachei; eine Reise, die schon irgendwo zwischen Cottbus, Bitterfeld und Dresden in ein turbulentes Stocken und an ihr Ende gerät; an Orten mit schnuckeligen Marktplätzen, drei Straßen, einer Bushaltestelle und manchmal auch einem winzigen Laden mit schmutzigen Fensterscheiben, „drinnen lag ein halbes Brot und verblichene Kaugummi-Packungen auf einem Tisch, dahinter ein Regal voller DDR-Waschmittel“.

Es ist eine seltsame und fremde Welt, in der sich Tschick und sein Freund wiederfinden; eine Welt, in der sie in vom Braunkohleabbau geprägten, nun aber verlassenen Orten alten Männern begegnen, die sich als „Ultrakommunisten“ bezeichnen. Oder schwergewichtigen, sympathischen Sozialarbeiterinnen. Oder Ökofamilien, mit denen sie Ratespiele um den leckersten Nachtisch spielen. Der Osten erscheint hier genauso wild wie bei Moritz von Uslar, ist aber weniger bedrohlich als skurril. Entdecken und erobern lässt er sich mit nur noch mehr Witzen, Absurditäten und Bieren.

Dagegen versuchen der 1962 in Wiesbaden geborene „Spiegel“-Journalist Dirk Kurbjuweit und der 1940 in Hamburg geborene Uwe Timm, in ihren Büchern eine neue gesamtdeutsche Selbstverständlichkeit zu vermitteln. Kurbjuweits Heldin Esther stammt aus Rügen. Sie ist die „Kriegsbraut“, die bei der Bundeswehr anheuert, nach Afghanistan muss und sich in einen afghanischen Dorfschullehrer verliebt. Ihre Mutter hat Meeresbiologie studiert und arbeitet seit der Wende im Meeresmuseum Stralsund; der Vater war SED-Mitglied und LPG-Pächter eines ehemaligen Gutsitzes, wird 1989 arbeitslos und versucht sich als Vertreter und Verkäufer von Schwimmbecken.

Vordergründig ist „Kriegsbraut“ ein Roman über den Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr. Nach und nach aber lässt Kurbjuweit seine Esther nicht zuletzt dem afghanischen Dorfschullehrer ihre Biografie erzählen. Von den Schwierigkeiten ihres Vaters, im neuen Deutschland klarzukommen. Von der selbst nach der Durchsicht ihrer Stasiakte klug und tapfer schweigenden und damit die Familie zusammenhaltenden Mutter. Esther riskiert in Afghanistan ihr Leben. Als Soldatin der Bundeswehr, die hier den Auftrag eines humanitären Einsatzes hat, wird sie zunehmend in Kriegshandlungen verwickelt. Trotzdem glaubt die Bundeswehr, in dem seit 1979 von den unterschiedlichsten Kriegsmächten gebeutelten Land zumindest in Ansätzen demokratische Reformen anstoßen zu können.

Esthers Vater jedoch ist entsetzt über die Berufswahl seiner Tochter, die sie ihm bei einem Rügen-Besuch mitteilt: „ ,Du willst für dieses Land sterben?’ – ,Für welches Land?’, fragte sie irritiert, weil er das Wort ,dieses’ so seltsam betont hatte. – ,Dieses.’ – Seine rechte Hand löste sich vom Lenkrad und zeigte nach vorne.“ Dieses Land scheint nicht mehr das Deutschland von Esthers Vater zu sein. Seine Tochter aber, so will es Kurbjuweit, ist in ihrem Leben zwar lange nicht angekommen, gerade auch privat nicht, hat aber trotz ihrer biografischen Wurzeln eine gesamtdeutsche Identität.

Auch Uwe Timm zielt mit „Freitisch“ auf deutsch-deutsche Normalität. Zwei Männer treffen sich in Anklam in einem Café und erinnern sich an ihre Studentenzeit im München der frühen sechziger Jahre. Und daran, wie sie den Schriftsteller Arno Schmidt verehrt haben. Der eine ist in der Abfallwirtschaft tätig und will Anklam mit einer hochmodernen Mülldeponie beglücken; der andere war nach der Wende als Lehrer für Deutsch und Geschichte hier tätig, nachdem er die Gegend während eines Urlaubs mit Frau und Kindern entdeckt hatte. „Sie vierzig, ich etwas über fünfzig, eine gute Zeit, was Neues zu beginnen. Haben das Haus gekauft, sehr günstig, und sind hergezogen. Lehrer wurden gesucht.“

Ein Westler, der Profit machen, den rückständigen Osten beglücken will, ein anderer, der neu anfängt, die Ablehnung der Einheimischen zu spüren bekommt, „aber auch viele hilfsbereite Leute und dann natürlich die eigenwillig knorzigen Typen“ kennenlernt – Timms Personal ist hier nahe am Klischee. Überzeugender sind die Erinnerungen der Männer an ihre Jugend und an Arno Schmidt. Gewissenhaft hat Timm sein Anklam-Material gesammelt. Wie in einem Reiseführer lässt er nichts aus, was man so von Anklam zu wissen glaubt: dass die Stadt eine „sterbende“ ist mit einer hohen Arbeitslosenzahl, durch Nationalsozialismus und Realsozialismus stark in Mitleidenschaft gezogen wurde, dass ihre Stadtgeschichte, „zugleich deutsche Geschichte ist“ etc.

Timm will mit aller künstlerischen Macht einen Bogen von der westdeutschen Studentenrevolte über die Wiedervereinigung bis in die Gegenwart schlagen. Doch man spürt, dass Uwe Timm gewissermaßen aus einem anderen Land kommt, sein Blick ein fremder bleibt. „Der Wind hatte gedreht, kam jetzt aus Westen, und die Wolken waren dichter und flacher geworden“, heißt es am Ende. Das ist ein schönes Bild dafür, dass die deutsch-deutschen Differenzen selbst über zwanzig Jahre nach der Wiedervereinigung nicht so leicht zu überbrücken sind. Auch nicht in der Literatur.

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