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Mein Bruder Woyzeck. Reinhard Jirgl in Darmstadt. Foto: Roman Grösser/dpa

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Literatur von unten: Sympathie der Eingeweide

Ein Plädöyer für eine Literatur von unten: Reinhard Jirgl erhält in Darmstadt den Georg-Büchner-Preis.

Fast hat es den Anschein, als sei es der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in den vergangenen Jahren bei der Auswahl der Büchnerpreisträger in erster Linie darum gegangen, Zeichen zu setzen – gegen den Trend, gegen Moden oder die Profanisierung des literarischen Raums. Das ist nicht nur das gute Recht der Akademie, sondern möglicherweise sogar ihre Pflicht. Schließlich ist der mit 40 000 Euro dotierte Büchnerpreis nicht der Deutsche Buchpreis, also kein Verkaufspreis.

Dass der 1953 in Berlin geborene Reinhard Jirgl nun mit dem bedeutendsten Literaturpreis des deutschsprachigen Raumes ausgezeichnet wurde, ist keine Überraschung, auch wenn Jirgl selbst, wenn man ihn darauf ansprach, energisch abwehrte: Nichts sei schlimmer, so pflegte er zu antworten, als einen Preis nicht zu bekommen, auf den man warte. Bei kaum einem anderen deutschen Gegenwartsautor dürfte die Lücke zwischen Bedeutung und Verkäuflichkeit so weit auseinanderklaffen wie bei Reinhard Jirgl, obgleich er selbst nicht müde wird zu betonen, er sei kein schwieriger Autor, sondern nur einer, für den man sich Zeit nehmen müsse. Die nachmittägliche Feierstunde im Darmstädter Staatstheater, in deren Rahmen Jirgl den Preis nun überreicht bekam, stellte jedenfalls eindrucksvoll unter Beweis, dass man kaum einen verdienteren Preisträger hätte finden können.

„Reinhard Jirgl tut oft weh.“ Mit diesem Satz eröffnete der Literaturkritiker Helmut Böttiger seine Laudatio, in der er sowohl Jirgls DDR-Dasein als Schubladendichter, der als Beleuchter an der Berliner Volksbühne sein Auskommen fand, skizzierte, als auch vor allem dessen radikale Form würdigte. Eine Form, die die Dynamik des Körperlichen in sich transportiert; Texte, die um „die Abgründe der bürgerlichen Familie kreisen.“ Die zentrale Opposition in Jirgls Romanen, so Böttiger, sei die des Einzelnen und der Macht; die sich in den immer wiederkehrenden Mechanismen der Geschichte manifestiere, die das Individuum „wie ein Moloch in sich aufsaugt.“

Reinhard Jirgl dankte mit einer dichten, motivreichen, sehr deutlichen und hochliterarischen Rede; der besten dieses Nachmittages, an dem zuvor noch der Johann-Heinrich-Merck-Preis an den Publizisten Karl-Markus Gauß und der Sigmund-Freud-Preis an den Archäologen Luca Giuliani vergeben worden waren.

Jirgl fand zunächst deutliche Worte gegenüber dem Umgang mit dem DDR-Regime und der immer wieder aufkeimenden Tendenz zu dessen Relativierung: „Das geeignete Stickluftklima“, so Jirgl, habe in der DDR geherrscht, „um aus allem Menschlichen erneut die Exemplare Heuchler und Opportunist, Spitzel und Denunziant aufsprießen zu lassen.“ Den Moralbegriff des Hauptmannes in Georg Büchners „Woyzeck“ verknüpfte Jirgl mit dem des sozialistischen Arbeiterstaates. Wo für den einen Moral das sei, wenn man moralisch ist, habe ein Jahrhundert später die Losung gegolten: „Der Marxismus-Leninismus ist wahr, weil er wissenschaftlich ist, und er ist wissenschaftlich, weil er wahr ist.“ Die Tautologie als staatserhaltendes Prinzip.

Doch es wäre ein Missverständnis, Reinhard Jirgls Büchnerpreisrede als eine Abrechnung zu begreifen. Sie war eher eine Annäherung an das Werk Georg Büchners und ein Verstehensversuch deutscher Geschichte vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart hinein. Die Bücher also, seit der Jugend für Jirgl „das Antibiotikum gegen die Infektion durch verfaulendes Leben“; das Bücherregal der Eltern, vor dem der 15-Jährige steht und in dem er den schmalen Band mit Büchners Dichtungen entdeckt. Und der erste Leseeindruck: eine „Eingeweidesympathie“, eine geradezu körperliche Verbundenheit mit dem Text, ohne die Jirgls Schreiben und Denken nicht vorstellbar wäre; eine „aus der Physiologie herrührende Abneigung gegen Indoktrinationen aller Art.“

Für den Schriftsteller Jirgl, in dessen Weltbild moralischer Fortschritt nicht existiert, nicht existieren kann, weil der Mensch sich stets gleich bleibt („Innerhalb der Krankheit leben bildet die zyklische Krise der Mensch“) steht der individualistische Dichter Büchner als ein überzeitliches Symbol für den Freiheitswillen, den der Einzelne der „Übermacht einer Obrigkeitswillkür“ entgegenzusetzen vermag. Der „Woyzeck“ erscheint in diesem Zusammenhang als „eine Literatur von unten, nicht von den Kommandohöhen herab, sondern bewusst der Historiografie der Herrscher und deren Bestreben nach Kontinuität ihrer Machterhaltung entgegengesetzt.“ Hier sprach er wohl auch über die eigene Poetik.

Reinhard Jirgl ist ein Schriftsteller, der ein eigenes literarisches System geschaffen hat, das nicht nur in seiner gelegentlichen Verwendung von Ziffern statt Silben sperrig erscheinen muss. Vom Verkauf seiner Bücher kann Jirgl, wie er in Interviews bekannte, nicht leben. Der Preis, so schloss er seine Rede, sei für ihn Geschenk und Ermutigung zugleich. Es war keine Koketterie in diesen Worten; nur die Freude darüber, weitermachen zu können. Christoph Schröder

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