zum Hauptinhalt
Dieter Kunzelmann 1967: Ein Praktiker der Epoche, kein Merve-Leser.

© dpa

1968 und der "lange Sommer der Theorie": Jenseits der Suhrkamp-Kultur

Philip Felsch erzählt in seinem Buch die Geschichte von Peter Gente und dem West-Berliner Merve-Universum. Eine Rezension

West-Berlin hat 25 Jahre nach seinem Untergang Hochkonjunktur. Das Berliner Stadtmuseum stellt die West-Stadt-Geschichte aus, Radioeins vom RBB bemühte sich vor einigen Wochen, dem musikalischen Lebensgefühl West-Berlins in den siebziger und achtziger Jahren auf die Spur zu kommen und aus der Feder des Kulturwissenschaftlers Philip Felsch liegt nun ein Rückblick auf die große Zeit des kleinen, 1970 in West-Berlin gegründeten Merve-Verlags vor. Maßgeblich für die Verlagsgeschichte waren ein Mann und seine zwei Frauen: Peter Gente, der Verleger, seine Frau Merve Lowien, die dem Verlag ihren Namen gab, und Gentes spätere große Liebe Heidi Paris.

Gentes Vater saß über Dutschke zu Gericht

Felsch blättert die Wirkungsgeschichte des Merve-Verlags entlang der Biografie des Verlegers und seiner Frauen auf. Hans-Peter Gente kam 1936 im damals preußisch-sächsischen Halberstadt zur Welt. Sein Vater, ein NSDAP-Mitglied und Jurist, floh mit der Familie vor den Kommunisten nach West-Berlin. Dort wurde er wieder Richter und saß im Moabiter Landgericht 1968 über den Kommunarden Fritz Teufel und Rudi Dutschke zu Gericht. Sein Sohn Peter gehörte zu dieser Zeit schon länger als Dutschke und Teufel dem Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) an und war ein belesener Marxist. Im SDS-Archiv der Freien Universität Berlin finden sich die Einladungen zum SDS-Arbeitskreis Ästhetik, den Gente 1963 gemeinsam mit Harald Kerber leitete. Man traf sich zur Lektüre auserlesener Werke bei Gente in der Bülowstraße 51, um auf der Grundlage von Walter Benjamins Essay über „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ den Begriff der Ästhetik „mit Hilfe der Kategorien marxistischen Denkens zu umreißen“. Auch Texte von Georg Lukacs zur Literatursoziologie, von Ernst Fischer „über die Notwendigkeit der Kunst“ und allerlei Adorno wurden durchgearbeitet.

David Roger Servais: „Neulich fiel mir wieder ein, dass ich Gente 1974 gezeichnet hatte, er hielt in der HdK zu dieser Zeit Soziologische Seminare, die ich drei oder vier Semester lang besuchte. Wir waren eine kleine Gruppe, höchstens 10 Studenten. Beim Reden hatte Gente fast immer ein Streichholz im Mund und knabberte daran. Seine marxistischen Seminare waren immer interessant, kritisch und gehaltvoll, ich glaube, ich habe einiges von ihm gelernt. Bei einer seiner Vorlesungen machte ich eine kleine Bleistiftzeichnung und davon eine Radierung.“
David Roger Servais: „Neulich fiel mir wieder ein, dass ich Gente 1974 gezeichnet hatte, er hielt in der HdK zu dieser Zeit Soziologische Seminare, die ich drei oder vier Semester lang besuchte. Wir waren eine kleine Gruppe, höchstens 10 Studenten. Beim Reden hatte Gente fast immer ein Streichholz im Mund und knabberte daran. Seine marxistischen Seminare waren immer interessant, kritisch und gehaltvoll, ich glaube, ich habe einiges von ihm gelernt. Bei einer seiner Vorlesungen machte ich eine kleine Bleistiftzeichnung und davon eine Radierung.“

© David Roger Servais

Philip Felsch streift diese Lehrjahre des jungen Gente nur kursorisch. Ausführlicher behandelt er aber dessen schon fast manische Beschäftigung mit Theodor W. Adorno, dessen „Reflexionen aus dem beschädigten Leben“ Gente ständig mit sich herumtrug. So hatte er bald Adornos Denk- und Schreibstil derart verinnerlicht, dass er 1965 beim Lesen der DDR- Zeitschrift „Sinn und Form“ eine aufregende Entdeckung machte. In einem Sonderheft brachte die Zeitschrift Auszüge aus einem von Eisler in den Vereinigten Staaten veröffentlichten Buch über „Komposition für den Film“. Gente wandte sich am 30. Oktober 1965 an Theodor W. Adorno und konfrontierte ihn mit seiner Vermutung, „daß Sie der wirkliche Autor sind“. Adorno antwortete schon drei Tage später und bestätigte, was damals nur ganz wenige Eingeweihte wussten, dass nämlich „neun Zehntel des Buches von mir und höchstens ein Zehntel von ihm sind“. Er habe es kurz vor der Drucklegung des Buches im Jahr 1947 angesichts eines gerade durch den parlamentarischen McCarthy-Ausschuss für unamerikanische Umtriebe eröffneten Verfahrens gegen Hanns und Gerhart Eisler für richtiger gehalten, nicht als Autor in Erscheinung zu treten. Adorno bat Peter Gente, einstweilen die Angelegenheit vertraulich zu behandeln. Philip Felsch vermutet, Adorno habe sogar 1965 noch in der „restaurativen Bundesrepublik“ befürchtet, mit dem „Makel des Kommunistenfreundes“ behaftet zu werden, wenn seine frühere Nähe zum Komponisten der DDR-Hymne Hanns Eisler öffentlich geworden wäre. Erst 1969 erschien dann „Komposition für den Film“ mit dem Hinweis auf Adornos Autorenschaft.

Eine Art Glaubenskrieg

Wie feinsinnig Gente mit seinen Lesefrüchten umgehen konnte, zeigt auch sein Herausgebernachwort zu dem 1968 bei Rogner & Bernhard erschienenen Text Josef Stalins über „Marxismus und Fragen der Sprachwissenschaft“. Bereits hier deutet sich die Abkehr von dem in der Neuen Linken grassierenden „Ableitungsmarxismus“ an. Der „Sowjetmarxismus“, schrieb Gente, sei „nichts als der zur Herrschaftsideologie pervertierte Marxismus“. Die Anregung zur Auseinandersetzung mit Stalins Sprachwissenschaft bezog Gente aus Frankreich, wo 1968 zwischen Strukturalisten und Marxisten „eine Art Glaubenskrieg“ tobte, in dem einige marxistische Theoretiker um Louis Althusser Stalins Linguistik-Briefe für durchaus diskutabel hielten.

Doch Gentes Entpuppung zum Freigeist dauerte, wie bei Philip Felsch nachzulesen ist, noch einige Jahre. Mit Althusser blieben er und das Merve-Kollektiv zunächst noch bei der marxistischen Sache. Der erste 1970 erschienene Merve-Band, „Warum sollen wir ,Das Kapital’ lesen?“ stammte von Althusser. Nach schier endlosen Diskussionen an Wohngemeinschaftstischen und in verqualmten Kneipen, nach Selbstbefreiungsritualen im Verlagskollektiv und vor allem nach Spurensuchen in den Geisteswelten des europäischen Umlands verabschieden sich Gente und sein Merve-Verlag dann aber von den alten Gewissheiten der Neuen Linken, um in den wilden Diskurs über die angemessene Weltwahrnehmung am „Ende der Geschichte“ einzutauchen. Das eingemauerte und vom westdeutschen Wirtschaftswunderland mit üppigen Subventionen über Wasser gehaltene West-Berlin bot dafür in den späten siebziger und achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts den idealen Resonanzraum. Felsch spricht gar von „der Hauptstadt des Posthistoire“, in der Theorie allenthalben „als Verrätselung gepflegt“ worden sei.

Wildes Denken in Schöneberg

Sein Buch über den „lange Sommer der Theorie“ erinnert mit ironischer Distanz und leicht melancholisch an die Kulturbegeisterung der Enkel Adornos, an die Suhrkampwelt der linken Theoriegeneration in der alten Bundesrepublik und an die Etablierung des „Merve-Universums“, das von West-Berlin aus die philosophischen Debatten in Deutschland befeuerte und weit über die „Verblendungszusammenhänge“ der 68er-Revolte hinaustrieb. Liebevoll und detailversessen rekapituliert diese „Geschichte einer Revolte“ die schöne alte Zeit vor der digitalen Revolution, als „wildes Denken“ sich noch in der „Gutenberggalaxis“ abspielte und Geistesriesen das West-Berliner Nachtleben bevölkerten. Wer weiß, ob Merves Autor Michel Foucault und David Bowie sich im Schöneberger Nachtleben tatsächlich etwas zu sagen hatten. Aber es hätte so sein können.

Philip Felsch: Der lange Sommer der Theorie. Geschichte einer Revolte 1960– 1990. C.H. Beck, München 2015. 326 Seiten, 24,95 Euro.
Philip Felsch: Der lange Sommer der Theorie. Geschichte einer Revolte 1960– 1990. C.H. Beck, München 2015. 326 Seiten, 24,95 Euro.

© C.H.Beck

Eine leichte Lektüre ist Philip Felschs kleine Geistes- und Milieugeschichte, obwohl flott und flüssig geschrieben, jedoch nicht. Immerhin erläutern fast achtzig Fußnotenseiten, was mitzudenken und eventuell in Büchern und längst vergessenen Zeitschriften nachzuschlagen wäre, wenn man sich nicht mehr an alle Windungen der Denkströme und die vielen wichtigen Theoretiker zwischen 1960 und 1990 zu erinnern vermag. Jedoch auch ohne Fußnotenexegese macht es Spaß dem Autor – er ist Jahrgang 1972 – bei seiner vergnügten Erkundungsreise eines Nachgeborenen durch den Dschungel des „Merve-Universum“ und die „Traumstadt“ West-Berlin zu folgen. Das ein oder andere erinnert der Zeitgenosse anders, doch das war immer so.

– Philip Felsch: Der lange Sommer der Theorie. Geschichte einer Revolte 1960– 1990. C.H. Beck, München 2015. 326 Seiten, 24,95 Euro.

Jochen Staadt

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false