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Alice Munro: Schuldig sind wir alle

Früh auf der Höhe ihrer Kunst: Alice Munros Debüterzählungen erstmals auf Deutsch.

So wie der Beobachter eines Hütchenspielers einen schnellen Blick benötigt, verlangen die raffinierten Erzählungen der Kanadierin Alice Munro einen aufmerksamen Leser – was allerdings, ähnlich wie beim Hütchenspieler, nur bedingt hilft. Am Ende weiß man trotzdem nie genau, in welchem Erzählstrang, unter welcher Figurenkonstellation oder in welchem Motivnetz eigentlich das Herz der Geschichten schlägt. Worum es eigentlich geht. Natürlich, am Ende offenbart die Autorin in ihren berühmten letzten Absätzen durch eine schreibende Lüpfbewegung ein letztes Geheimnis ihrer Hauptfiguren, lenkt sie die Aufmerksamkeit schnell noch auf eine neue, bisher übersehene Facette eines Charakters, aber eben so schwebend und flüchtig, dass einem die Figuren durch die Entdeckungen nicht bekannter, sondern noch rätselhafter erscheinen.

Der Vergleich mit dem Hütchenspieler hinkt übrigens nur ein bisschen. Der Hütchenspieler packt den Passanten an seinem eitlen Glauben, „die Dinge zu durchschauen“ – genau wie Alice Munro, die inzwischen eine fast achtzigjährige Dame ist und jedes Jahr wieder für den Literaturnobelpreis ins Gespräch gebracht wird. Auch das eingebildete hämische Abschlusslächeln, mit dem die Autorin nach jeder Kurzvorstellung den Leser trifft, ähnelt dem des Straßenzauberers durchaus.

„Himmel und Hölle“ und „Tricks“ hießen ihre letzten wunderbaren Erzählbände. Auch den neuesten Band schlägt man höchst gespannt auf, besonders, weil er im Original schon vor über vierzig Jahren erschienen ist. „Tanz der seligen Geister“ ist Munros Debüt, das sie mit Mitte dreißig Ende der sechziger Jahre in Kanada bekannt machte. Nun gibt es hier einige Erzählungen, die – verglichen mit den späteren – an Unterkomplexität leiden. Das Herausragende an Munro-Erzählungen ist, neben einer kaum zu durchschauenden Kompositionskunst, die schillernde Figurenzeichnung, und in diesem Band sind einige Figuren zu eindeutig geraten. Zu eindeutig kaltherzig zum Beispiel, wie der Liebhaber der Ich-Erzählerin in der Erzählung „Postkarte“. Kurz nachdem er ihr einen postalischen Gruß von einer Reise zusendet, erfährt sie aus der Zeitung, dass er eine andere geheiratet hat. Als das frischvermählte Paar eine Woche später ins Städtchen zurückkommt, ignoriert er die Erzählerin, als hätte es zwischen ihnen nie etwas gegeben.

Oder zu eindeutig durchgeknallt wie in „Das Büro“. Eine junge verheiratete Mutter mietet sich ein Büro, um dort in Ruhe schreiben zu können. Von Ruhe kann aber keine Rede sein, weil der Vermieter penetrant ihre Nähe sucht. Als die Erzählerin distanziert bleibt, kippt das Interesse in Aggression, bis sie entnervt Reißaus nimmt. All das wird fein in Szene gesetzt, munro-typisch beschrieben, präzise und kristallin wie fließendes Wasser. Doch für eine wirklich große Geschichte hätte sich die Frau nicht nur zurückziehen dürfen, sie hätte sich mit dem Borderline-Drama des Vermieters verweben müssen, um eigene Abgründe sichtbar zu machen.

Vier, fünf Texte sind solcherart enttäuschend gestrickt. Seltsam sind darin nicht die Erzähler, sondern immer nur die anderen. Dieser Band enthält aber nicht fünf, sondern fünfzehn Erzählungen, und in den restlichen zehn zeigt sich Alice Munro schon auf der Höhe ihrer Kunst. Die meisten spielen in Kanada, mehr auf dem Land als in der Stadt, mehr bei einfachen Leuten als bei Akademikern, und die Protagonisten sind meist Kinder oder junge Frauen oder Männer. Auf der Handlungsebene passiert nicht viel: Ein Vertreter nimmt seine Kinder auf eine Vertretertour mit („Der Walker Brothers-Cowboy“). Zwei junge Cousins gabeln in einer Kneipe zwei Mädchen auf, schlafen mit ihnen und liefern sie danach wieder zu Hause ab („Danke für die Schlittenfahrt“). Eine junge Frau bekommt für den Highschool-Ball von ihrer Mutter ein Kleid genäht, will aus Angst, als Mauerblümchen zu enden, erst nicht hingehen und tut es dann doch.

Auf der entscheidenden, der psychologischen Ebene bricht in jeder dieser Geschichten freilich eine Welt zusammen. Sie beschreiben alle eine Initiation in die Erwachsenenwelt, die auf den ersten Blick anders, vernünftiger wirkt, tatsächlich aber nach den gleichen brutalen Ausschließungsgesetzen funktioniert wie die schon bekannte Schulhofwelt der Kindheit: Wer ist hier das Opfer? Falls ich es bin: Mit wem kann ich mich solidarisieren, um den Schmerz zu linden? Und wen kann ich im entscheidenden Moment von mir stoßen, um doch noch auf die Seite der Gewinner zu wechseln? In diesen Geschichten ist niemand frei von Schuld. Wer glücklich sein will, muss Entscheidungen treffen – für etwas, aber vor allem gegen etwas. Wer glücklich sein will, muss verraten, das führt Alice Munro in diesen brillanten, latent bösartigen Geschichten vor.

Wie Munro dabei mit Hilfe geschickter Perspektivsprünge und Allianzwechsel den Leser von einer Überraschung in die nächste jagt, zeigt keine so deutlich wie eben jene Ball-Geschichte mit dem Titel „Rotes Kleid 1946“. Sie beginnt mit dem lapidaren Satz: „Meine Mutter nähte mir ein Kleid.“ Was der fünfzehnjährigen Ich-Erzählerin peinlich ist. Denn im Gegensatz zu ihren Tanten ist die Mutter keine gute Schneiderin: „Anders als sie begann sie mit einem Einfall, einer wagemutigen und glänzenden Idee; von da an ließ ihre Begeisterung nach.“ Ein Satz – und man sieht diese Mutter vor sich: Impulsiv und egozentrisch. Sie näht das Kleid mehr für sich als für ihre Tochter. Dann zockelt die Ich-Erzählerin zum Ball, und es ist genauso schlimm, wie sie es befürchtet hat. Der Junge, der sie zum Tanz auffordert, will sie offenbar nur demütigen, denn während des Tanzes lässt er sie plötzlich los und geht weg. „Das wovor ich Angst gehabt hatte, trat ein. Ich wurde links liegen gelassen. Ich hatte etwas Geheimnisvolles an mir, etwas, das sich nicht abstellen ließ wie Mundgeruch oder übersehen ließ wie Pickel, und alle wussten es, und ich wusste es auch ...“

Doch das Wunder geschieht. Auf der Toilette, wohin das Mädchen flieht, verwickelt sie ein anderes Mädchen, keine Außenseiterin wie sie, in ein abfälliges Gespräch über Jungs. Vor Dankbarkeit wirft sich die gepeinigte Erzählerin der anderen förmlich an den Hals und pumpt sich mit Selbstwertgefühl auf. „Hier war eine, die dieselbe Niederlage wie ich erlitten hatte – das sah ich –, aber sie war voller Energie und Selbstachtung.“ Beide verlassen den Ball, doch auf dem Weg nach draußen wird die Ich-Erzählerin unerwartet zum Tanz aufgefordert. Ehe sie sich versieht, dreht sie sich schon und lässt nun selbst die neugefundene Freundin tief verletzt stehen. „Mein Gesicht nahm gewisse kleine Korrekturen vor und erreichte mühelos den ernsten, geistesabwesenden Ausdruck derer, die erwählt worden waren, derer die tanzten.“

Der junge Mann, der sie zum Tanz aufgefordert hat, bringt sie auch nach Hause und – Krönung ihres Triumphes – küsst sie zum Abschied sogar. Aber nur, das spürt sie mit Schauder, weil die Konvention es so vorsieht. Jetzt gehört sie zwar dazu, zu den Tänzerinnen, den Geküssten – aber wie schal dieser Erfolg doch ist. Niederschmetternd dann der Rückweg ins Haus, wo die einsame Mutter schon begierig darauf wartet, zu hören, dass ihre Tochter im roten Kleid bella figura gemacht hat. „... da verstand ich, welch eine geheimnisvolle und bedrückende Pflicht ich hatte, glücklich zu sein, und dass ich bei dem Versuch, diese Pflicht zu erfüllen, beinahe gescheitert wäre und wahrscheinlich jedes Mal scheitern würde, ohne dass meine Mutter es ahnte.“

Auch Alice Munro bestraft die kleinen Sünden sofort.

Alice Munro: Tanz der seligen Geister. Erzählungen. Aus dem Englischen von Heidi Zernig. Dörlemann Verlag, Zürich 2010. 260 Seiten, 21, 90 €.

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